Minister auf Anwerbetour Wie Deutschland um Fachkräfte buhlt
Die Ministerinnen und Minister der Ampelkoalition suchen im Ausland händeringend nach Fachkräften. Doch können Reisen um die halbe Welt das Problem lösen?
"Können Sie sich vorstellen, in anderen Ländern, zum Beispiel in Deutschland zu arbeiten?", fragt Arbeitsminister Hubertus Heil die angehenden Pflegekräfte und erntet freundliches Nicken - hier am anderen Ende der Welt, an der Universität von Brasilia. Doch viele sind auch skeptisch.
Im Jahr 2022 seien 34 professionell Pflegende aus Brasilien ins Land gekommen. "Ernüchternde Zahlen" nennt das die "Deutsche Stiftung Patientenschutz" anlässlich der jüngsten Ministerwerbetour. Ernüchternd, weil davon auszugehen sei, dass bis 2035 allein im Krankenhaus- und Pflegebereich eine halbe Million Fachkräfte fehlten.
Es ist mittlerweile die dritte Reise, die Heil im weiteren Ausland antritt, um für Deutschland Fachkräfte anzuwerben. Dieses Mal hat er Außenministerin Annalena Baerbock an seiner Seite, die parallel schnelle Visa verspricht. Unterstützung kommt zudem von der Bundesagentur für Arbeit. Sie hat seit 2022 Vermittlungsvereinbarungen mit Brasilien. Konkret betreut die Agentur 374 brasilianische Bewerber aus Pflegeberufen, 43 aus technischen und Handwerksberufen und 42 aus Ingenieur- und IT-Berufen. Pro Jahr, so das Ziel, sollen 700 Fachkräfte nach Deutschland kommen.
Der Bedarf ist enorm
Und doch sind das bisher nur kleinste Erfolge, gemessen an der Dimension der Herausforderung: Bis 2035 werden laut Experten sieben Millionen Fachkräfte in Deutschland zusätzlich gebraucht, allein durch die bevorstehende Verrentungswelle der geburtenstarken Jahrgänge.
Dafür müssten sogar rund 18 Millionen ausländische Fachkräfte bis 2035 kommen, rechnet Ökonom Enzo Weber im Gespräch mit den tagesthemen vor. Grund dafür sei, dass viele nicht dauerhaft in Deutschland blieben und wieder nach einigen Jahren abwanderten. Weber ist Wirtschaftsforscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das zur Bundesagentur für Arbeit gehört und auch die Bundesregierung berät.
Umgerechnet auf die zwölf Jahre müssten also im Durchschnitt 1,5 Millionen Fachkräfte jährlich kommen. Und weil Deutschland gerade um Hochqualifizierte - nicht nur im IT-Bereich - in starkem Wettbewerb mit Ländern wie USA, Kanada, Australien steht, heißt das: anwerben, anwerben, anwerben.
Seit März 2020, als das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft getreten ist, wurden rund 130.000 Visa an qualifizierte Fachkräfte und Auszubildende aus Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union vergeben. Bis Ende 2022 waren insgesamt laut Arbeitsministerium nur rund 350.000 Arbeitskräfte aus Drittstaaten mit einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit in Deutschland. Genauere Zahlen, aus welchem Drittstaatenland welche Fachkräfte kommen, gibt es nicht. Laut Migrationsbericht kamen im Jahr 2021 weniger als vier Prozent aus Afrika, noch weniger insgesamt aus Lateinamerika.
"Viel Bürokratie und wenig Willkommenskultur"
Deutschland gilt laut OECD und einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung als nur mäßig attraktiv für Arbeitsmigranten. Bei Hochqualifizierten seit 2019 sogar mit absteigender Tendenz. Die Gründe sind vielfältig: Die Sprachbarriere im Vergleich zu englisch- oder spanischsprachigen Ländern, die Steuerbelastung, aber auch die Qualität der beruflichen Chancen für Migrantinnen und Migranten: Die sogenannte Überqualifizierungsrate von Zugewanderten, die außerhalb der EU geboren wurden, ist hoch. Hier falle auch die mangelnde Akzeptanz von Migrantinnen und Migranten ins Gewicht, so die Studie - vor allem im Vergleich zur Spitzengruppe der Anwerbeländer. "Deutschland strahlt viel Bürokratie und wenig Willkommenskultur aus", befand der Arbeitsmarktexperte und Ökonom Holger Bonin dazu gegenüber "Zeit online".
Heil weiß das natürlich: "Stellen Sie sich vor, wir haben eine ganz tolle Anwerbekampagne, es kommen ganz viele Leute nach Deutschland und werden gleich wieder abgeschreckt, weil die Bürokratie zu lange dauert - das können wir uns nicht leisten." Auf Englisch wurde er bei einem Arbeitsbesuch in Kanada im März noch deutlicher: "We want to destroy bureaucracy!" - die Bürokratiehürde solle zerstört werden.
Bisher erhielt Deutschlands Arbeitsmarkt durchaus Zuwanderung von Fachkräften aus Europa, vor allem aus Osteuropa. Doch die Quelle versiege, denn die europäischen Länder alterten mit, so IAB-Experte Weber - man müsse nun mehr im weiteren Ausland suchen, in Ländern mit jüngeren Gesellschaften.
Weltweite Anwerbetour
In jedem sechsten Beruf fehlen Fachkräfte - vom Pflegeberuf bis hin zum IT-Experten. Nach neuesten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist die Zahl der sogenannten Engpassberufe im vergangenen Jahr auf 200 gestiegen. Das Hotel- und Gaststättengewerbe hat sich ebenso eingereiht wie der Metallbau und Busfahrer.
Darum war Arbeitsminister Heil im März in Kanada auf Anwerbetour, kurz davor in Ghana, gemeinsam mit Entwicklungsministerin Svenja Schulze. In Ghana kooperiert Deutschland mit so genannten EU-Migrationszentren. Schulze gab aber bereits bei ihrer Reise vor Ort zu: "Es werden nicht viele sein, die kommen, aber wir sind darauf angewiesen, Fachkräfte zu holen. Und diese Zentren können dabei helfen."
Netzwerke von Zuwanderern wichtig
Können diese Reisen von deutschen Ministerinnen und Ministern wirklich etwas bewirken? "Sie bringen schon etwas," so IAB-Experte Weber: Wenn es um Drittländer gehe, brauche es den Aufbau von Kooperationen und Netzwerken vor Ort. Das könne die staatliche Seite machen, das müsse dann aber von der Ministerebene dann auch auf die Arbeitsebene vor Ort hin umgesetzt werden, bei den Botschaften und Ausbildungsinstitutionen.
Vor allem brauche es aber Netzwerkbildung selbst von in die Heimat zurückgekehrten Zuwanderern. Die könnten helfen, für Deutschland zu werben. "Dafür müssten sie aber die Chance haben, mit Deutschland in Kontakt zu bleiben." Weber plädiert deswegen für längere Aufenthaltstitel als die derzeit gültigen sechs Monate, wie es sie in Kanada oder Frankreich gebe. Dort hat man noch drei Jahre nach einem Arbeitsaufenthalt die Möglichkeit zurückzukehren.
Hinkt die Ampelkoalition der Zeit hinterher?
Es sind wohl viele Schrauben, an denen noch gedreht werden müsste. Die Ampelkoalition will das noch während der Großen Koalition 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz reformieren. Ein Punktsystem nach kanadischem Vorbild soll eingeführt werden und einen hierzulande anerkannten beruflichen Abschluss ersetzen können, der bisher zur Einreise und Arbeitssuche in Deutschland benötigt wird. Das war als zu hohe Hürde identifiziert worden.
Doch auch hier hinkt die Politik möglicherweise schon wieder der Zeit hinterher. Denn die Punkte sollen die Arbeitssuche erlauben, bei gefundenem Job müssten die Ankommenden aber nochmals in einer zweiten Stufe die ganzen Zuwanderungsvoraussetzungen erfüllen. Für Weber nicht mehr zeitgemäß, da Arbeitssuche inzwischen digital stattfinde: Es sei nicht so ganz realistisch, dass jemand von weit her anreise, um nachzuschauen, ob am Werkstor ein Stellenaushang klebe. "Wenn man ein Punktesystem zum Erfolg führen will, muss das in einer Stufe zur Erwerbstätigkeit berechtigen". Arbeitsminister Heil wird sich wohl noch öfter an seinen Satz aus Kanada erinnern müssen, Bürokratie wirklich zerstören zu wollen.