20 Jahre nach Erfurter Amoklauf "Nicht alle Wunden heilen"
71 Schüsse, 17 Tote: Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium liegt nun 20 Jahre zurück. Die Tat änderte vieles. Welche Lehren wurden aus Erfurt gezogen?
Es ist ein Freitag. Zu Hause schmieren Eltern noch schnell die Frühstücksbrote, Kinder sind auf dem Schulweg. Die Zwölftklässler plagen Prüfungsängste. An diesem Tag steht am Erfurter Gutenberg-Gymnasium die Abitur-Prüfung an. Es ist ein ganz normaler Freitag.
Auch ein ehemaliger Gutenberg-Schüler packt an diesem 26. April 2002 seinen Rucksack. Er wohnt nur wenige Querstraßen von der Schule entfernt. Der 19-Jährige steckt keine Schulbücher ein, sondern eine Pistole Glock 17 und eine Vorderschaft-Repetierflinte, eine sogenannte Pumpgun. Seinen Eltern hatte er gesagt, zur Abiturprüfung zu gehen. Dabei besuchte er schon seit Monaten keinen Unterricht mehr, weil er wegen gefälschter Arztatteste von der Schule geflogen war. Da er zu dem Zeitpunkt schon volljährig war, wurden die Eltern über den Verweis ihres Sohnes nicht von der Schule informiert. Am Computer und am Schießstand trainierte er das Morden. Als Mitglied in einem Schützenverein hatte er sich die Waffen legal besorgt.
Kurz vor 11 Uhr betritt er an diesem Tag vor genau 20 Jahren seine ehemalige Schule. Wenige Augenblicke später fällt der erste Schuss. Raum für Raum, Etage für Etage durchkämmt der 19-Jährige das Schulgebäude. Er erschießt binnen weniger Minuten elf Lehrer und Lehrerinnen, eine Referendarin, die Schulsekretärin, aus einem Fenster heraus einen Polizisten und durch eine verbarrikadierte Klassenzimmertür zwei Schüler.
71 Schüsse
71 Schüsse gibt der 19-Jährige ab - mit dem letzten Schuss tötet er sich selbst. 20 Jahre ist das jetzt her. Seitdem wird in jedem Jahr am 26. April vor dem Schulgebäude an die Opfer erinnert, seit 2017 mit einer Schulglocke, die eigens dafür gegossen wurde. Am Schulgebäude hängt eine Erinnerungstafel mit den Namen der Getöteten und dem Spruch, um den lange gerungen worden war: "In Erinnerung - verbunden mit der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt."
Es heilen nicht alle Wunden - auch nach 20 Jahren nicht, sagen die, die das Schulmassaker miterlebt und überlebt haben. Wie Maxi Bohn, die heute in Berlin lebt und Modeberaterin ist: "Gutenberg hat uns fast alle schneller erwachsen werden lassen. Und alles, was mir damals intuitiv wichtig war, ist mir heute sehr viel wichtiger." Zeit sei das Kostbarste, das man habe.
"Der erste Massenmord an einer deutschen Schule wird immer mit Erfurt, mit dem Gutenberg-Gymnasium verbunden sein und es wird immer schmerzliche Erinnerungen wecken", sagt Manfred Ruge. "Da war viel Polizei, viel Chaos, weinende Kinder, Jugendliche, die in Panik über den Zaun sprangen, viele Eltern, deren Angst und Panik ich nie vergessen werde, und ein großer Medienauflauf", erinnert sich der damalige Oberbürgermeister von Erfurt.
Eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer am Gutenberg-Gymnasium 20 Jahre nach dem Amoklauf.
"Das steckt man nicht weg"
René Treunert war damals einer der Einsatzleiter der Polizei, zuständig für den Abschnitt Betreuung. Heute ist er Polizeichef in Weimar und sagt: "Es gibt einen René Treunert vor Gutenberg und einen René Treunert nach Gutenberg. Bis zu diesem Tag hatte ich in 20 Jahren Polizeiarbeit vielleicht 50 Todesnachrichten überbringen müssen - aber noch nie an einem Tag 17. Das macht etwas mit einem, das steckt man nicht weg."
Der heute 57-Jährige war damals einer der wenigen Polizeibeamten in Thüringen, die bereits als Kriseninterventionshelfer ausgebildet waren. Die Angehörigen der Ermordeten wurden jeweils einzeln und begleitet von Seelsorgern über den Tod ihrer Liebsten informiert. Da war es schon Abend. "Viel zu spät. Aber wir hatten bis dahin keine zuverlässigen Listen, der Funkverkehr war komplett zusammengebrochen."
Die letzte Todesnachricht überbrachte Treunert den Eltern des Schützen. Die waren seit dem frühen Nachmittag von allen Informationen abgeschnitten, standen unter Hausarrest, nachdem das Spezialeinsatzkommando die Leiche des Amokläufers gefunden hatte. "Die Eltern wussten bis 20 Uhr nicht, was geschehen war. Sie hatten nur - wie alle Erfurter - viel Blaulicht, viele Rettungswagen gesehen. Ihr Telefon, ihr Fernseher - alles war seit Stunden gekappt. Ich weiß heute nicht mehr genau, was ich gesagt habe, ob ich den Begriff 'Mörder' verwandt habe", sagt Treunert.
Lehren aus Erfurt
Die Gewalttat hat viel verändert. Aus den Fehlern wurde gelernt. Sehr kurzfristig nach dem Tag sei mit dem Lehrerfortbildungsinstitut in Bad Berka der Krisenordner für Schulen entwickelt worden, so Treunert. Ein erster Leitfaden für Lehrer und Lehrerinnen im Krisenfall - vom reinen Schulwegunfall über den Chemieunfall bis hin zur Bedrohung und zum Amoklauf. "Bei jedem Schulleiter, jeder Schulleiterin steht der Krisenordner heute im Büro."
In den Folgejahren gab es weitere Gewalttaten an deutschen Schulen, etwa in Winnenden bei Stuttgart. Am 11. März 2009 erschoss ein 17-Jähriger 15 Menschen in seiner früheren Schule, der Albertville-Realschule.
Schärfere Waffengesetze
Der Amoklauf von Erfurt hatte nicht nur dramatische Auswirkungen auf die Biografien von Tausenden Menschen. Er hat auch die Gesetzgebung in Deutschland beeinflusst. So wurde im Rahmen der Verschärfung des Waffengesetzes das Mindestalter für Sportschützen zum Erwerb großkalibriger Waffen auf 21 Jahre angehoben. Außerdem wurde die Aufbewahrungspflicht für Schusswaffen und Munition erheblich verschärft und eine Verpflichtung für Sportschützen unter 25 zu einer medizinisch psychologischen Untersuchung geschaffen.
Eine weitere Konsequenz aus dem Polizeieinsatz in Erfurt war die Reform der Polizeiausbildung: In der Folge wurden Beamte geschult, direkt einzugreifen und nicht auf Spezialeinsatzkommandos zu warten. In Erfurt hatte das Spezialeinsatzkommando nach Berichten über einen zweiten Täter das Gebäude mehrere Stunden lang Raum für Raum durchsucht, in dieser Zeit konnten Rettungskräfte nicht zu allen Opfern vordringen.
Auch Jugendschutzgesetz verschärft
Zwar haben Studien mittlerweile gezeigt, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Amokläufen und Ego-Shooter-Computerspielen gibt, doch als Reaktion hat der Gesetzgeber auch das Jugendschutzgesetz im Bereich von gewaltdarstellenden Spielen verschärft.
Und auch in Thüringen gab es Änderungen auf Gesetzesebene: Das Schulgesetz wurde so angepasst, dass seit 2004 alle Gymnasiastinnen und Gymnasiasten eine Prüfung zur Mittleren Reife nach der 10. Klasse vorlegen müssen. Denn zum Tatzeitpunkt hatten Gymnasiasten keinen Abschluss, wenn sie das Abitur nicht bestanden. Der Täter hatte wegen des Verweises vom Gutenberg-Gymnasium kurz vor dem Abitur keinen Schulabschluss gehabt.
Christiane Alt, Schulleiterin des Gutenberg-Gymnasiums, (hier auf einem Archivfoto vom Gedenken am 26. April 2021.)
"Schrei nach Veränderung" verhallte
Der erste Massenmord an einer deutschen Schule hat die Gesellschaft erschüttert, hat viele Debatten um eine bessere Schule, um mehr Aufmerksamkeit für die Sorgen und Nöte von Jugendlichen, um ein verschärftes Waffenrecht ausgelöst. "Schrei nach Veränderung" hieß es damals. Tausende Schüler zogen Wochen nach dem Amoklauf mit Plakaten durch die Stadt, es wurde im Landtag und am Küchentisch diskutiert. Heute, 20 Jahre später, fällt das Fazit bei vielen ernüchtert aus.
"Wir können nicht sagen, dass da wesentlich Tolles passiert ist", sagt Christiane Alt. Sie war damals Schulleiterin und ist es bis heute. "Wir kämpfen jeden Tag um die Unterrichtsstunde, die stattfinden muss. Es fehlen Lehrer und Freizeitpädagogen und Sozialarbeiter. Nach 2002 habe ich dem damaligen Bildungsminister vermittelt, dass wir für die Probleme an den Schulen - das betrifft alle Schulen - Schulsozialarbeit als Unterstützung für den Lehrer, für die Eltern und Ansprechpartner für die Kinder vor Ort, im Haus, als eine feste Instanz brauchen. Ich habe seit zwei Jahren eine Stelle für Schulsozialarbeit. Mehr muss man nicht sagen."
Psychologische Hilfe für Traumatisierte
Zwei Drittel der Gutenberg-Schüler mussten nach dem Amoklauf psychologisch betreut werden. Alina Wilms ist Traumaexpertin und hatte 2002 die Koordination der aus ganz Deutschland nach Erfurt gereisten Psychologen übernommen: "Die ganze Stadt war traumatisiert, es gab kein anderes Thema. Wir haben allen über 600 Gutenberg-Schülern und Lehrern ein psychologisches Angebot gemacht und viele Betroffene jahrelang betreut."
Viele Gutenberg-Schüler von 2002 haben mit der psychologischen Hilfe zurück in ein normales Leben gefunden, auch Jens Schneider. Er ist in Erfurt geblieben, hat Eventmanagement studiert: "Ich bin dankbar, dass ich jetzt hier sein kann, bei meiner Familie, meine Freundin - das hätte alles auch schon vorbei sein können. Natürlich hinterlässt so etwas Wunden und Narben. Das ist auch gut so, das muss weiterhin sichtbar bleiben, um die Leute weiter zu sensibilisieren."
In diesem Jahr am 26. April sollen die 16 Opfer mit biografischen Splittern persönlicher vorgestellt werden: "Wir wollen sie den Schülern nahebringen, die sie nicht kannten. Und wir wollen verdeutlichen, welche Lebensträume an jenem 26. April 2002 zerstört wurden", sagt Schulleiterin Alt. Von den 60 Lehrern und Lehrerinnen haben 13 die Bluttat miterlebt. "Wenn uns die heutigen Schüler danach fragen, erzählen wir davon. Dieses Geschehen gehört zu unserer Geschichte."