In einem Jobcenter liegt ein Antrag auf Bürgergeld.
analyse

Bürgergeld-Sanktionen Dreiviertel Rolle rückwärts

Stand: 09.07.2024 12:17 Uhr

Durch die geplante Verschärfung der Sanktionen wird das Bürgergeld nicht abgewickelt - aber deutlich beschnitten. Gerade die SPD musste erkennen, dass es bei einem Teil der eigenen Klientel nicht gut ankommt.

Eine Analyse von Hans-Joachim Vieweger, ARD-Hauptstadtstudio

Die Einführung des neuen "Bürgergelds" ist - oder soll man besser sagen: war - eins der Großprojekte der Ampelkoalition. SPD-Politiker wie Saskia Esken sprachen von "Respekt vor denjenigen, die in Not sind". Nun hat sich die Tonlage verändert: Nicht nur die FDP, sondern auch das SPD-geführte Arbeitsministerium betonen zunehmend die Pflichten, die Bürgergeldempfänger erfüllen müssen.

Von Sanktionen für "Totalverweigerer" ist jetzt die Rede. In den Blick geraten Menschen, die Bürgergeld beziehen, aber zusätzlich noch schwarz arbeiten. Die Regeln zur Zumutbarkeit zur Arbeitsaufnahme sollen verschärft werden.

Unterm Strich heißt es dazu im Papier zur "Wachstumsinitiative" der Ampel-Spitzen: "Um die Akzeptanz der Leistungen zu erhalten und um mehr Betroffene in Arbeit zu bringen, ist es erforderlich, das Prinzip der Gegenleistung wieder zu stärken."

Die Überwindung des Hartz-IV-Traumas

Der Satz mag von vielen als Selbstverständlichkeit angesehen werden - politisch aber ist er brisant. Denn gerade für viele Sozialdemokraten war mit der Einführung des Bürgergelds der Abschied vom ungeliebten Hartz-IV-System verbunden, das Gerhard Schröder als SPD-Kanzler 2003 mit der Agenda 2010 eingeführt hatte.

Schröder hatte damals gesagt: "Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern." Worte, die für die meisten Sozialdemokraten ungewohnt klangen.

Dass mit der Agenda 2010 wichtige Impulse für den Arbeitsmarkt verbunden waren, ist heute unbestritten. Doch viele Genossen empfanden die Reform als Schlag gegen sozialdemokratische Grundüberzeugungen. 2019 rief Andrea Nahles als damalige SPD-Vorsitzende offiziell dazu auf, Hartz IV zu "überwinden".

Die Grünen wollten ein sanktionsfreies Bürgergeld

Diese Forderung schaffte es 2021 zwar nicht wörtlich ins Wahlprogramm der SPD, inhaltlich aber schon: Von einem neuen "Verständnis eines haltgebenden und bürgernahen Sozialstaats" war die Rede. Zwar war durchaus noch an Mitwirkungspflichten der Begünstigten gedacht, vor allem aber an "Hilfe und Ermutigung".

Die Grünen gingen noch einen Schritt weiter. Sie sprachen explizit davon, Hartz IV zu überwinden und plädierten für eine Garantiesicherung für alle: "Sie schützt vor Armut und garantiert ohne Sanktionen das soziokulturelle Existenzminimum."

Nach der Wahl 2021 ging es dann an die Umsetzung, wenn auch mit Einschränkungen. Zunächst bremste die FDP: Sie hatte zwar in ihrem Wahlprogramm auch von einem "Bürgergeld" gesprochen, diesen Begriff aber ganz anders gefüllt als SPD und Grüne.

Dann bremste die Union über den Bundesrat. Der Kompromiss sah eine Neuberechnung der Leistungen sowie Erleichterungen bei den Sanktionen vor. Vor allem aber wurde der sogenannte Vorrang von Arbeit abgeschafft: Die passgenaue Qualifikation der Bürgergeldempfänger sollte Vorrang haben vor einer schnellen Vermittlung in den Arbeitsmarkt.

Das Bürgergeld ist deutlich teurer als geplant

Anderthalb Jahre nach der Einführung kann von Begeisterung über das neue Bürgergeldsystem keine Rede sein. Das hat mehrere Gründe. So ist das System deutlich teurer als geplant. Schon für das vergangene Jahr mussten über einen Nachtragshaushalt mehr als drei Milliarden Euro nachgeschossen werden.

In einer ähnlichen Größenordnung dürfte der zusätzliche Bedarf in diesem Jahr liegen. Zusammen mit den Kosten für die Unterbringung wird das Bürgergeld den Bund in diesem Jahr wahrscheinlich mehr als 40 Milliarden Euro kosten.

Die steigenden Kosten hängen zum einen mit der höheren Zahl an Empfängern zusammen, insbesondere mit der hohen Zahl an Flüchtlingen, zuletzt vor allem aus der Ukraine. Zum anderen mit dem deutlichen Anstieg bei den Leistungen. Lag das frühere Arbeitslosengeld II für einen Alleinstehenden 2022 noch bei 449 Euro, liegt es inzwischen bei 563 Euro.

Die Begründung ist einfach: die hohe Inflation. Und doch hat der deutliche Sprung die Frage nach der Arbeitsmotivation aufgeworfen: Lohnt sich Arbeit noch in ausreichendem Maß? Oder kann man es sich im Bürgergeld bequem machen?

Debatte über Arbeitsanreize beim Bürgergeld hält an

Auch wenn Wissenschaftler stets darauf verweisen, dass selbst Menschen mit Niedriglöhnen unterm Strich mehr Netto auf dem Konto haben als Bürgergeldempfänger - die Debatte um die Folgen der Bürgergeldreform für den Arbeitsmarkt verstummt nicht.

Aus der Reinigungsbranche heißt es, Mitarbeiter kündigten lieber und wechselten ins Bürgergeld als zu malochen. Die Personalmanagerin eines Freizeitparks beklagte in der ARD-Sendung "Mitreden", dass die meisten Bürgergeldempfänger, die von den Jobcentern zu ihr geschickt würden, überhaupt kein Interesse an Arbeit hätten. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Uni Bochum zeigt, dass Mitarbeiter der Jobcenter die Bürgergeldreform überwiegend skeptisch sehen: Sie erkennen nur wenige Verbesserungen.

Für Diskussionsstoff sorgt zudem der hohe Anteil ausländischer Empfänger am Bürgergeld mit 47,3 Prozent im vergangenen Jahr - ein Zeichen dafür, dass die Einwanderung in den Sozialstaat, die Bundeskanzler Olaf Scholz an sich beenden möchte, weiterhin stattfindet.

Bürgergeld wird nicht mit "Respekt" verbunden

All das bekommen auch die Politiker in ihren Wahlkreisen zu hören. SPD-Politiker, die sich öffentlich hinter das Bürgergeld stellen, sagen hinter vorgehaltener Hand: Das fällt uns auf die Füße.

Während die Erhöhung des Mindestlohns mit dem Kanzlerwort vom "Respekt" verbunden wird, wird die Erhöhung des Bürgergelds eher als Zeichen von mangelndem Respekt gegenüber der arbeitenden Bevölkerung angesehen. Mit Folgen bei den Wahlen: Bei der Europawahl machten Arbeiter ihr Kreuzchen deutlich öfter bei AfD und Union als bei der SPD.

Arbeitsminister Heil spricht von "lernendem System"

Mit den angekündigten Verschärfungen und der neuen Tonlage - jetzt geht es wieder mehr ums Fordern als ums Fördern - reagiert die Ampelkoalition auf diese Stimmungslage. Arbeitsminister Hubertus Heil spricht von einem "lernenden System": "Wenn wir Dinge nachsteuern müssen, sollten wir das tun", sagt der SPD-Politiker zum Beispiel mit Blick auf die Bekämpfung der Schwarzarbeit.

Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck erläutert in einem Schreiben an seine Grünen-Fraktion, warum er der neuen Ausrichtung des Bürgergelds trotz Bedenken zustimme: Ihn hätten "Stimmen aus der Praxis, nach denen die Sanktionen wichtig sind, um mehr Kooperation zu erreichen, überzeugt, zumal wir die Anreize ja auch stärken und Hürden abbauen und Kinder aus armen Familien stärken".

Die FDP kann sich in ihrer Kritik bestätigt sehen

Die FDP schließlich fordert ohnehin seit Monaten, wie zuvor schon CDU und CSU, Korrekturen an der von ihr mitbeschlossenen Reform - unter der Überschrift "Leistung und Arbeit müssen sich wieder lohnen". Insofern ist es nur folgerichtig, dass FDP-Finanzminister Christian Lindner es nun als "Gebot der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die arbeiten" bezeichnet, "den fordernden Charakter unserer Arbeitsmarktpolitik zu stärken".

Konsequentere Mitwirkungs- und Meldepflichten, neue Zumutbarkeitsregeln und schärfere Sanktionen beim Bürgergeld seien ein Schritt nach vorn, so Lindner. Für die gesamte Bürgergeldreform ist es aber eine dreiviertel Rolle rückwärts.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 07. Juli 2024 um 18:19 Uhr.