Festakt zu 75 Jahre Bundestag "Schluss mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation"
Bei der Feierstunde zum 75. Jahrestag der ersten Bundestagssitzung hat Ex-Innenminister Baum eindringlich zur Verteidigung der Demokratie aufgerufen. Die Historikerin Morina wurde von AfD-Zwischenrufen unterbrochen.
Der Bundestag hat mit einer Feierstunde den 75. Jahrestag seiner ersten Sitzung am 7. September 1949 geehrt. "Bei allen Problemen sollten wir nicht vergessen, dass wir in 75 Jahren Bundestag immer wieder bewiesen haben: Wir können Krisen bewältigen - trotz harter Kontroversen", sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. "Unsere Demokratie ist stark und wehrhaft gegenüber allen, die ihr schaden wollen", fügte sie hinzu.
Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) rief die Politik dazu auf, sich wieder mehr um die Gefühle der Menschen in Deutschland zu kümmern. "Politik sollte das Bedürfnis der Menschen ernster nehmen, sich der Verzweiflung, der Einsamkeit in unserer Gesellschaft mehr widmen und mehr Mitgefühl zeigen", so der 91-Jährige. Dabei seien nicht alle Probleme auf einmal lösbar. Zugleich müsse der Wunsch der Menschen respektiert werden, mitwirken zu können.
Die liberale Demokratie stehe weltweit unter Druck autoritärer Kräfte, sagte Baum in seiner eindrücklichen Rede. Er habe eine solche Situation in seinem Leben noch nicht erlebt und verglich sie mit dem Kalten Krieg. Der sei auch eine starke Bedrohung gewesen, aber "was wir heute an Brandherden und möglichen Brandherden erleben, hält damit nicht stand", sagte Baum.
Stehender Applaus für Rede von Baum
Baum warnte vor der Gefahr einer Weltordnung, "die sich nicht mehr am Prinzip der Menschenwürde orientiert". Über den Begriff der Menschenwürde im Grundgesetz - etwa Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - sagte Baum rückblickend auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland:
Der Parlamentarische Rat hat wunderbare Debatten darüber geführt: Einige wollten einen Gottesbezug, andere bezogen sich auf Kant. Am Ende haben beide festgestellt: In dem Artikel 1 steckt beides: Gott und Kant.
Während sich im christlichen Glauben die Würde des Menschen von Gott ableitet, als dessen Ebenbild der Mensch erschaffen wurde, ging der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) davon aus, dass jeder Mensch allein deshalb wertvoll ist und somit Würde besitzt, weil er Mensch ist.
Baum forderte, Deutschland müsse beweisen, dass es Demokratie tatkräftig verteidigen könne. In Bezug auf die Konsequenzen, die das demokratische Deutschland aus der nationalsozialistischen Diktatur gezogen habe, gebe es kein Zurück mehr. "Es muss Schluss sein mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation", sagte der Ex-Minister, der für seine Rede stehenden Applaus erhielt.
Historikerin von Zwischenrufen unterbrochen
Auch die ebenfalls zum Festakt geladene Historikerin Christina Morina warnte in ihrer Rede vor antidemokratischen Strömungen und ging auf die aktuelle Migrations- und Asyldebatte ein. Die Logik des populistischen und extremistischen Antiparlamentarismus habe durch die sozialen Medien eine größere Reichweite erlangt, als ihr an Wählerstimmen gemessen zukomme. Dieser Logik verfalle, "wer die Migration zur Mutter aller Probleme erklärt".
Immer wieder kam es während ihrer Rede zu Zwischenrufen aus der AfD-Fraktion, weshalb die Wissenschaftlerin ihre Rede kurzzeitig unterbrach.
Zugegen waren bei der Feierstunde neben Bas' Amtsvorgängern Rita Süssmuth, Wolfgang Thierse und Norbert Lammert auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sowie der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff. Auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, war anwesend.