Holocaust-Gedenken im Bundestag "Passen Sie auf auf unser Land"
Vor neuen Formen des Rassismus in Deutschland wurde heute gewarnt - beim Holocaust-Gedenken im Bundestag. Die Zeitzeugin Knobloch mahnte, judenfeindliches Denken sei wieder salonfähig - von der Schule bis zur Corona-Demo.
Seit 25 Jahren erinnert der Bundestag mit einer Gedenkstunde am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz an die Opfer der Nationalsozialisten. In diesem Jahr standen aktuelle Formen von Antisemitismus im Mittelpunkt.
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, berichtete vom Leid ihrer Familie in der NS-Zeit. Die 1932 geborene Knobloch überstand die Shoah versteckt auf einem Bauernhof in Mittelfranken.
Knobloch erzählte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, als eine Hausmeisterfrau zu ihr sagte: "Judenkinder dürfen hier nicht spielen." Der Schulweg sei zum Spießrutenlauf voller Anfeindungen geworden.
Knobloch: Verschörungsmythen erhalten Zuspruch
Wer die heutigen Corona-Maßnahmen mit dem vergleiche, was die Juden einst in Deutschland ertragen mussten, der "verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Shoah", sagte sie.
Antisemitisches Gedankengut und Verschwörungsmythen erhielten wieder mehr Zuspruch - von der Schule bis zur Corona-Demonstration und im Internet, "dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze jeder Art", mahnte Knobloch.
"Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren"
Die Parlamentarier forderte Knobloch auf: "Passen Sie auf auf unser Land." Dabei betonte sie, diese Worte explizit nicht an die "ganz rechte Seite des Plenums" zu richten. Auf dieser Seite sitzt die AfD, die Knobloch nicht namentlich erwähnte.
An die Adresse der AfD-Fraktion sagte Knobloch: "Sie werden weiter für ihr Deutschland kämpfen, und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen." Und: "Ich sage Ihnen, Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren." Nach ihrer Rede standen die Abgeordneten auf, um zu applaudieren. Aus den Reihen der AfD blieben einige Abgeordnete sitzen.
Auf Formen von Judenhass achten
Auch die Publistizin Marina Weisband forderte eine stärkere Achtsamkeit für Formen von Judenhass, die bis in die Mitte der Gesellschaft wirken. Sie sagte, Antisemitismus beginne mit Verschwörungserzählungen. "Wir können den Anfängen nicht wehren, weil es ein ständiger Prozess ist", so die frühere Netzpolitikerin.
Weisband mahnte ein Fortbestehen der Erinnerungskultur an den Holocaust an. Gerade wegen des fortschreitenden Ablebens der Zeitzeugen, müsse die junge Generation der Juden in Deutschland das Gedenken weitertragen.
Weisband wurde 1987 in Kiew als Tochter jüdischer Eltern geboren. Sie berichtete davon, dass es für Juden und Jüdinnen in Deutschland auch heute noch fast unmöglich sei, "einfach nur Mensch" zu sein. Sie müssten aus Sicherheitsgründen ihre Jüdischsein verstecken und unsichtbar machen. "Einfach nur Mensch zu sein, ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt", sagte Weisband. "Einfach nur Mensch zu sein, bedeutet, dass jüdisches Leben in Deutschland unsichtbar gemacht wird", denn es sei "gefährlich, sichtbar zu sein".
Merkel: "Immerwährende Verantwortung Deutschlands"
Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht im Gedenken an die Opfer des Holocaust eine "immerwährende Verantwortung Deutschlands" - für heutige und künftige Generationen. "Ich empfinde tiefe Scham angesichts des Zivilisationsbruchs der Schoa, den Deutschland während des Nationalsozialismus begangen hat", sagte die CDU-Politikerin in einer Videobotschaft zum Internationalen Holocaust-Gedenktag. "Offenem wie auch verdecktem Antisemitismus, der Leugnung wie auch der Relativierung des Holocaust müssen wir uns mit aller Entschiedenheit entgegenstellen", verlangte Merkel. Besonders dankte die Kanzlerin den Überlebenden, die die Kraft aufbringen würden, ihre Lebensgeschichten zu erzählen.
Steinmeier: "Sinne wachhalten"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief dazu auf, Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft nicht zu dulden: "Ein jeder von uns ist aufgerufen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vor Bedrohungen, Beleidigungen und Gewalt zu schützen. Nicht in Zukunft, sondern hier und heute, in dem Land, in dem wir gemeinsam leben." In einem Grußwort für eine gemeinsame virtuelle Gedenkveranstaltung des World Jewish Congress und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau fügte er hinzu: "Wir müssen unsere Sinne wachhalten, Vorurteile und Verschwörungstheorien erkennen und ihnen mit Vernunft, Leidenschaft und Entschiedenheit entgegentreten."
Schäuble: Neue Formen des Rassismus
Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble warnte vor neuen Formen von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland. "An Gedenktagen wird stets Verantwortung angemahnt, aber werden wir ihr auch gerecht? Auch bei uns zeigen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder offen, hemmungslos, auch gewaltbereit", warnte der CDU-Politiker.
Schäuble beklagte, dass jüdische Einrichtungen von der Polizei geschützt werden müssten. "Juden verstecken ihr Kippa, verschweigen ihre Identität. In Halle entkam die jüdische Gemeinde nur durch einen Zufall einem mörderischen Anschlag", sagte er. Nach Jahrzehnten der Zuwanderung dächten deutsche Juden über Auswanderung nach. "Und das beschämt uns. Es ist niederschmetternd, eingestehen zu müssen, unsere Erinnerungskultur schützt nicht vor einer dreisten Umdeutung oder sogar Leugnung der Geschichte", warnte Schäuble. "Und sie schützt auch nicht vor neuen Formen des Rassismus und des Antisemitismus, wie sie sich auf Schulhöfen, in Internetforen oder in Verschwörungstheorien verbreiten."
Gedenktag am 27. Januar
Die Nationalsozialisten und ihre Helfer hatten während des Zweiten Weltkrieges sechs Millionen Juden ermordet. Seit 1951 erinnert Israel am Holocaust-Gedenktag an die Opfer. Die Vereinten Nationen legten 2005 den Internationalen Holocaust-Gedenktag auf den 27. Januar. An diesem Tag erreichte die Rote Armee 1945 das deutsche Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und befreite mehr als 7000 überlebende Häftlinge.