Interview zur Halbzeit der Regierung "Schwarz-Gelb laufen die Wähler davon"
Belogen, betrogen, getäuscht - so können sich die Wähler von Schwarz-Gelb fühlen, sagt der Publizist Hans-Hermann Tiedje im Interview mit tagesschau.de. Trotz guter Arbeitsmarktentwicklung sieht der ehemalige Kohl-Wahlkampfberater bei der Halbzeitbilanz der Koalition eher schwarz. Was folgt daraus für 2013?
tagesschau.de: Was ist aus Ihrer Sicht die bisher größte Leistung der schwarz-gelben Koalition?
Hans-Hermann Tiedje: Eine, die von der Bevölkerung leider nicht der Koalition zugeschrieben wird, sondern dem deutschen Mittelstand: Dass wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit vielen Jahren haben. Und dass sich Deutschland ökonomisch in einer international schwierigen Situation als Wirtschaftsmotor Europas stabilisiert hat. Das ist zu einem erheblichen Teil dieser Koalition zuzurechnen.
Hans-Hermann Tiedje, 62, war unter anderem stellvertretender Chefredakteur von "Bild", sowie Chef von "Bunte" und "Tango". 1998 beriet er Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Wahlkampf gegen Gerhard Schröder (SPD). Heute nennt der Publizist sich Medienmanager und unterhält Beratungsfirmen in mehreren deutschen Städten.
tagesschau.de: Das ausgerechnet schreiben aber Experten auch Schröder mit seiner Agenda 2010 und in Teilen den Entschlüssen der Großen Koalition zu, etwa mit der Erweiterung des Kurzarbeitergeldes.
Tiedje: Zu einem Teil ist das in der Tat die Folge der im Ansatz richtigen Politik von Schröder, aber auch die jetzige Koalition hat einen erheblichen Anteil daran. Das Problem dieser Regierung ist nur, dass die Bürger ihr das nicht zurechnen. Die Meinung ist doch: Die Wirtschaft, vor allem der Mittelstand, schafft das alles trotz des Regierungs-Wirrwarrs.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie in der Leistungsbilanz den recht überraschenden beschleunigten Atomausstieg?
Tiedje: Ich persönlich halte den für falsch. Wir werden noch sehen, und zwar bald, wohin das führt, wenn die ersten Stromschwankungen kommen. Aber unabhängig von meiner persönlichen Meinung zur Atomkraft: Das Problem im Augenblick ist, dass viele Wähler der CDU sich belogen, betrogen und getäuscht fühlen. Wenn ich 2009 die CDU gewählt habe, habe ich eine Partei gewählt, die die Atomkraft als Brückentechnologie im Wahlprogramm hatte, die gegen den allgemeinverbindlichen Mindestlohn war, die Wehrpflicht beibehalten wollte und die außenpolitisch eine engere Zusammenarbeit mit den USA anstrebte.
Wenn man sich die Politik dieser Regierung heute - zwei Jahre später - anschaut: Das ist das komplette Gegenteil. Schwarz-Gelb muss sich nicht wundern, dass ihnen die Wähler davonlaufen!
tagesschau.de: Das Phänomen beträfe aber doch nicht nur die CDU?
Tiedje: Richtig, auch CSU und FDP sind unglaubwürdig geworden. Vor der Wahl waren alle drei in den zentralen Fragen einer Meinung - und jetzt? Auf einmal war das offenbar alles falsch. Warum soll der Bürger das nächste Mal Schwarz-Gelb wählen, wenn man mich 2009 so vorgeführt hat? Diese Regierung hat sich wegen eines schweren Unglücks am anderen Ende der Welt von einer zentralen Position verabschiedet, und man fragt sich: Was ist beim nächsten Mal dran? Das alles schafft kein Vertrauen in ihrer Politik, im Gegenteil. Die regierenden Parteien haben ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem, das sie auch so schnell nicht mehr loswerden.
tagesschau.de: Verursacht Ihrer Meinung nach durch falsches Politik-Management oder nur falsche Kommunikation?
Tiedje: Bei einer Not-Koalition von Union und SPD hätte man solche politischen Kompromisse akzeptiert, aber bei Dreien, die sich vorher so einig schienen, nicht. Ich, der die diese Koalition gewählt hat, konnte mir nicht vorstellen, dass ein solches Kuddelmuddel dabei herauskommt. In einer solchen Koalition braucht man eine Clearingstelle, die alle internen Konflikte geräuschlos klärt, statt sie an die Öffentlichkeit zu lassen. Das müsste das Kanzleramt sein. Aber die derzeitige Amtsleitung dort lässt doch sehr zu wünschen übrig.
tagesschau.de: Die Kanzlerin nennt ihre Koalition "christlich-liberal" und hat in jüngerer Zeit oft den sozialen Zusammenhalt als Aufgabe definiert - genau da wird ihr jedoch von Kritikern vorgehalten, dass sie bisher zu wenig getan hat. Etwa die Entwicklung der größer werdenden Arm-Reich-Schere nicht aufzuhalten.
Tiedje: Das hat nicht mit der Amtszeit von Frau Merkel begonnen, sondern bereits in der Ära Schröder. Wir haben eben zwei fundamentale Gesellschaftsprobleme: das eine ist der Neid, dafür stehen die Sozialisten. Das andere ist die Gier, dafür stehen etwa bestimmte Investmentbanker, die die Taschen nicht voll genug kriegen können. Aber die angesprochene Schere geht nicht durch aktuelles Regierungshandeln weiter auseinander. Die Regierung Merkel verkörpert durchaus soziale Verantwortung. Aber sie kommuniziert fatal.
tagesschau.de: Was folgt nun daraus?
Tiedje: Dass bestimmte Wählergruppen sich nicht mehr angesprochen fühlen. Es sind nicht nur die Piraten, die in den Bundestag kommen können. Wenn ein Quartett wie die Herren Sarrazin, Clement, Henkel und Merz zusammen eine Partei gründeten, wäre die aus dem Stand heraus in Deutschland bei 25 Prozent. Das ist nicht etwa eine fixe Idee von mir, nein, das sage ich Ihnen nach Gesprächen mit Meinungsforschern. Das Potenzial ist riesengroß!
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de