Interview zum Parteitag "Die Grünen gelten als etabliert"
Vor mehr als 30 Jahren starteten die Grünen als Anti-Establishment-Partei: Doch die Aura des Neuen ist weg, meint der Politikwissenschaftler Probst im Interview mit tagesschau.de. Die Piraten machen Druck - und die Regierungsbeteiligung in fünf Ländern zwingt sie zu Kompromissen, "bis an den Rand der Selbstverleugnung".
tagesschau.de: Zum Bundesparteitag ist vom Höhenflug der Grünen im Frühjahr wenig übrig geblieben. Wie kommt das?
Lothar Probst: Das Superwahljahr begann mit einer Enttäuschung für die Grünen in Hamburg. Und es endete mit einer Enttäuschung in Berlin. Dazwischen lag Fukushima und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Das hat die Grünen in Höhen einer Volkspartei katapultiert. Aber dieses Niveau ist für die Partei bei veränderter Themenlage schwer zu halten. Realistisch ist eher ein Wert um die 15 Prozent. Das ist immer noch viel mehr als das, was die Grünen bei früheren Wahlen erreicht haben.
Lothar Probst ist Politikwissenschaftler und Parteienforscher an der Universität Bremen. Seine Forschungsgebiete sind unter anderem die politische Kultur und interkulturelle Studien. Probst forscht zu neuen sozialen Bewegungen und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu den Grünen.
tagesschau.de: Bei der Berliner Wahl feierten nicht die Grünen, sondern die Piraten einen überraschenden Erfolg. Hatten die Grünen das Thema Internet verschlafen?
Probst: Datensicherheit und Neue Medien spielen bei den Grünen eine Rolle, stehen aber nicht im Zentrum. Da haben die Piraten geschickt eine "Marktlücke" besetzt. Die Grünen gelten bei Szenewählern als etablierte Partei: Es gibt sie seit mehr als 30 Jahren, sie haben sieben Jahre im Bund regiert, sie stellen einen Ministerpräsidenten. Da kann man nicht mehr damit mit der Aura des Neuen punkten.
"Der Flügelstreit spielt kaum eine Rolle"
tagesschau.de: Nach der Berliner Wahl hat sich der Landesverband komplett zerlegt. Bricht der alte Konflikt zwischen Fundis und Realos wieder auf?
Probst: Das glaube ich nicht. Es handelt sich wohl eher um ein landespolitisches Problem. In der Bundespolitik spielt der alte Flügelstreit kaum eine Rolle. Das liegt natürlich auch an einer mittlerweile sehr professionellen Handhabung von Konflikten durch den Parteirat. Wir sehen das im Vorfeld von Parteitagen. Viele Konflikte werden gefiltert und geglättet, so dass die Parteitage in der Regel von hohem Konsens geprägt sind.
tagesschau.de: Das klingt aber nicht nach Basisdemokratie, die den Grünen lange so wichtig war.
Probst: Differenzen werden nicht mehr so unerbittlich ausgetragen wie früher - dafür sorgt auch eine professionellere Debattenkultur und Parteitagsregie. Hin und wieder probt die Basis aber bei Parteitagen noch den Aufstand.
tagesschau.de: Sind die Grünen mittlerweile zu pragmatisch?
Probst: Regierungsbeteiligung erzwingt häufig ein pragmatischeres Herangehen an Probleme - das geht manchmal bis an den Rand der Selbstverleugnung. Wie pragmatisch die Grünen geworden sind, sieht man zum Beispiel daran, dass sie aufgrund einer Art "europapolitischer Staatsräson" dem Euro-Stabilitätspakt zugestimmt haben. Gleichzeitig müssen die Grünen darauf achten, dass sie sich nicht zu sehr anpassen und an Glaubwürdigkeit verlieren.
"'Stuttgart 21' wird Enttäuschungen hervorrufen"
tagesschau.de: Am Sonntag könnte die Volksabstimmung zu "Stuttgart21" mit einer Mehrheit für den Bau enden. Welche Auswirkungen hätte es, wenn nun ausgerechnet ein Ministerpräsident von den Grünen den Bau des Tiefbahnhofs verantworten müsste?
Probst: Das wird mit Sicherheit Enttäuschungen hervorrufen. Aber hier können die Grünen sich natürlich auf das Volksbegehren berufen, da sie immer für mehr Beteiligungsdemokratie und Volksentscheide waren. Insofern können sie sich aus der Affäre ziehen, aber das Gefühl einer bitteren Niederlage wird bleiben.
tagesschau.de: Welche neuen Themen müssten die Grünen besetzen, um künftig erfolgreich zu sein?
Probst: Sie haben ja in den vergangenen Jahren erfolgreich neue Themenfelder besetzt wie zum Beispiel die Bildungs- und Sozialpolitik. Diesen Weg werden sie weiter gehen. Auf dem Bundesparteitag wird ausführlich über die Finanz- und Europapolitik debattiert mit dem Ziel, die europäische Integration weiter voranzutreiben. Von ihrer bildungsstarken Wählerschaft wird die proeuropäische Orientierung sehr positiv gesehen. Und da die Krise zeigt, wie wichtig die Finanzpolitik ist, wollen die Grünen auch hier ihr Profil weiterentwickeln.
"Die Zeiten des 'rot-grünen Projekts' sind vorbei"
tagesschau.de: Lange galt die SPD als der natürliche Koalitionspartner der Grünen. Jetzt treten die Konflikte zwischen beiden Parteien immer öfter in den Vordergrund. Woran liegt das?
Probst: Die jüngsten Wahlergebnisse zeigen: Die Grünen haben vor allem auf Kosten der SPD gewonnen. Beide Parteien sind noch stärker als früher Konkurrenten geworden. Das spiegelt sich auch in einem anderen Umgang miteinander wider: SPD-Chef Sigmar Gabriel geht die Grünen oft hart an. Auch Olaf Scholz in Hamburg und Klaus Wowereit in Berlin machten ihren Wahlkampf gegen die Grünen. Die Zeiten des "rot-grünen Projekts" von Gerhard Schröder und Joschka Fischer sind definitiv vorbei, die Grünen kehren selbstbewusster ihren Charakter als eigenständige politische Kraft heraus.
tagesschau.de: Dennoch tun sich die Grünen schwer mit der Öffnung für andere Koalitionen. Da macht die Basis nicht mit. Ist das nicht ein Problem?
Probst: Gerade in Hamburg - eigentlich ein linker Landesverband - fiel 2008 die Entscheidung für Schwarz-Grün ziemlich reibungslos. Es ist immer auch die Frage, was man vom Koalitionspartner geboten kriegt.
In Hamburg war es de facto eine stark grün gefärbte Schulpolitik. Dass dies dann beiden Parteien auf die Füße gefallen ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Basis akzeptiert die Öffnung für andere Koalitionen, wenn dabei grüne Positionen durchgesetzt werden können.
tagesschau.de: Neuer und alter starker Mann bei den Grünen ist Jürgen Trittin. Fehlt es der Partei an fähigem Nachwuchs?
Probst: Es gibt ja in den Ländern viele gute jüngere Nachwuchspolitiker wie den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer oder Tarek Al-Wazir in Hessen.
tagesschau.de: In der Bundespolitik spielen sie kaum eine Rolle. Halten die Alten das Heft zu stark in der Hand?
Probst: Nach außen repräsentieren die Vertreter der älteren Garde das Bild, aber im Parteirat bestimmen die Jüngeren längst mit, in welche Richtung es geht. Als der grüne "Leitwolf" Joschka Fischer die politische Bühne verließ, dachten viele, die Lücke wäre nur schwer zu schließen. Aber es ist anders gekommen.
Fischer konnte sehr schnell ersetzt werden. So wird es einem Jürgen Trittin und einer Renate Künast auch ergehen. Die Grünen als Programmpartei werden nach wie vor vor allem wegen ihrer Inhalte gewählt.
tagesschau.de: Dennoch: wie "alt" ist die Partei?
Probst: Die Partei ist in die Jahre gekommen und mit ihr so mancher alte Kämpfer. Sie ist eine etablierte Partei in der politischen Mitte und steht in manchen Fragen vielleicht sogar der CDU näher als der SPD. Und sie hat bei den gut verdienenden und gut gebildeten bürgerlichen Wählerschichten mittlerweile einen starken Rückhalt. Bei den Selbstständigen erreicht sie Wähleranteile um die 20 Prozent. Ob die Grünen den Weg in Richtung neue "Volkspartei" gehen wollen, ist parteiintern aber noch umstritten.
"Gorleben gehört zum Ritual der Grünen"
tagesschau.de: Gleichzeitig lassen sie dieser Tage bei den Protesten in Gorleben alte Symbole wieder aufleben. Wie viel Nostalgie steckt dahinter?
Probst: Das gehört zu ihrem Ritual als frühere Protestpartei und soll die Verbindung mit der Anti-Atom-Bewegung unterstreichen. Die Atompolitik und die Frage der Endlagerung sind ja sehr aktuell: Die Ökologie bleibt der Markenkern der Grünen.
Die Herausforderung besteht darin, sie mit den strukturellen Herausforderungen der Zukunft und der Wirtschaftlichkeit zu verbinden. Bei der Sonnen- und Windenergie funktioniert das schon sehr gut. In diesen Branchen sieht die Wirtschaft die Grünen als ihre Interessenvertretung. Solche Bündnisse zwischen Ökologie und Ökonomie werden in Zukunft für die Grünen noch wichtiger werden.
Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.