Interview

Interview mit Dieter Graumann "Das Judentum ist ein Stück Zukunft"

Stand: 30.11.2014 11:44 Uhr

Nach vier Jahren im Amt tritt Dieter Graumann als Präsident des Zentralrats der Juden ab. Im Interview mit dem Hessischen Rundfunk (hr) zieht er Bilanz und fordert mehr Empörung und Empathie gegen Antisemitismus in Deutschland - auch von muslimischen Verbänden.

hr: Sie haben viel erreicht. Sie haben Strukturen verändert. Ihnen ist es gelungen, die finanzielle Ausstattung des Zentralrats wesentlich zu verbessern. Aber Sie sind haben vor vier Jahren auch gesagt: "Wir wollen aus dieser Mecker-Ecke raus. Wir wollen nicht die sein, die man wie eine Empörungs-Maschine immer wieder anwerfen kann." Konnte das in den letzten Jahren gelingen?

Graumann: So ganz ist es nicht gelungen. Ich habe mir vorgestellt: Kein jüdisches Dauer-Mahnwesen mehr. Wir wollen inspirieren, statt kritisieren. Aber wenn wir gefordert sind, dann sind wir auch da. Wir sind als Juden hier keine Krawallmacher. Wir suchen keine Konflikte, die Konflikte suchen uns. Dann sind wir da, dann engagieren wir uns. Wenn wir uns die letzten vier Jahre anschauen, gab es ja doch heftige Debatten, den wir uns stellen mussten, und das haben wir auch getan.

Nicht nur Katastrophe und Kritik

hr: Sie haben auch gesagt: "Wir wollen diejenigen sein, die sagen, wofür sie sind und nicht immer nur, wogegen sie sind." Wenn Sie vor einer Schulklasse stehen und denen sagen, wofür der Zentralrat der Juden ist. Wie erklären Sie das?

Graumann: Es ist ja nicht nur der Zentralrat, sondern das Judentum. Ich habe immer versucht, zu vermitteln, dass Judentum nicht nur aus Shoa und Antisemitismus besteht. Es ist nicht nur ein Konzentrat aus Katastrophe und Kritik, sondern bedeutet so viel mehr. Nämlich Sinn und Tiefe, Wärme und Werte. Ein moralisches Fundament, aber auch Temperament und so viele Traditionen.

Und das alles weitergegeben in einer langen, langen Kette von mehr als 100 Generationen. Ich glaube, das ist etwas Besonderes. Judentum ist eine intellektuelle, eine kulturelle und vor allem auch eine spirituelle Kraftquelle von einer ganz besonderen Intensität. Das zu vermitteln, ist eine große Herausforderung.

hr: Sie haben sehr viele Juden integrieren müssen, die aus Osteuropa gekommen sind. Inwieweit ist das gelungen?

Graumann: Ich glaube, das ist sehr gut gelungen, das wissen aber die wenigsten Menschen. Unsere Gemeinschaft besteht zu 90 Prozent aus Menschen, die erst in den letzten 25 Jahren nach Deutschland gekommen sind. In Deutschland wird viel über Integrationsprobleme gesprochen und manchmal gejammert. Da muss ich manchmal drüber lächeln. Denn während andere jammern, machen und leben wir Integration und das sogar in einem Verhältnis zehn zu neunzig. Das soll uns erst mal jemand nachmachen. Ich glaube, das ist eine ganz große und besondere Integrationsleistung, die uns gelungen ist. Wer möchte, kann gerne auch ein bisschen von uns lernen, wenn er denn mag.

hr: Gleichwohl kenne ich auch Gemeinden, wo Gemeindevorsteher und Rabbiner sagen, es stellt uns doch immer noch vor gravierende Probleme, auch weil es eine sprachliche Barriere gibt. Wie weit sind Sie in dieser Integration wirklich in den einzelnen Gemeinden?

Graumann: Ich glaube, es ist insgesamt gut gelungen. Natürlich gab und gibt es auch Probleme, aber insgesamt ist es hervorragend gelungen. Wir sind hier in Frankfurt. Gehen Sie in die jüdische Schule, in das Philanthropin. Stellen Sie sich in die Pause. Sie werden nicht mehr feststellen können, ob ein Kind aus München oder aus Minsk kommt. Bei den jungen Menschen funktioniert die Integration wunderbar.

hr: Frankfurt ist da vielleicht auch ein besonders gelungenes Beispiel. Es gibt aber sicher auch andere Stellen, wo es Konflikte gibt: Zwischen Liberalen und Orthodoxen, Alteingesessenen und Zuwanderern. Wie erleben Sie das abseits von Frankfurt?

Graumann: Solche Konflikte mag es mal geben. Aber für uns ist doch das Besondere, dass wir sind gewachsen sind und jetzt noch zusammenwachsen müssen. Wir sind mitten in diesem Prozess und der geht sehr gut voran. Ich glaube, wir alle müssen wissen, dass Pluralität wichtig ist im Judentum.

Wir sind nicht alle gleich, sondern es gibt Verschiedenheiten im Judentum - in der Art, wie wir denken, wie wir beten, woher wir kommen. Wir müssen diese Pluralität nicht als Last begreifen, sondern als eine Bereicherung. Wir müssen diese Pluralität verinnerlichen und sie stärkt uns am Ende auch.

Daran will ich einfach nicht glauben

hr: Zuletzt waren Sie in diesem Sommer sehr gefordert, als Israelkritik mitunter als Vehikel genutzt wurde für antisemitistische Äußerungen auf offener Straße. Wie ist ihre Erfahrung: Wie verbreitet ist Antisemitismus im Alltag?

Graumann: Ich glaube, ganz generell wird man das schwer sagen können. Es gibt ganz offensichtlich Antisemitismus. In allen Umfragen sehen wir, dass ungefähr 20 Prozent der Menschen hier solche Einstellungen haben. 20 Prozent - machen sagen, das sei nicht viel. Aber in Zahlen übersetzt wären das ja sechzehn Millionen Menschen im Land. Und daran will ich einfach nicht glauben. Es ist auch nicht meine persönliche Lebenserfahrung.

Aber dieser Sommer war schwer. Es war für uns, auch für mich, ein Sommer, der ein Alptraum war: Wenn wir auf deutschen Straßen hören, dass Menschen rufen: "Juden ins Gas!". Das trifft uns ganz tief. Viele von uns kommen ja aus Holocaust-Familien und haben, wie ich selbst, niemals im Leben Großeltern gehabt, weil unsere Großeltern im deutschen Gas ermordet worden sind.

Und wenn wir dann hier auf deutschen Straßen hören "Juden ins Gas", und das keine Welle der Empörung auslöst - das trifft uns ganz, ganz tief.

hr: Von welcher Stelle hätten Sie sich gewünscht, dass sich eine Welle der Empörung aufgebaut?

Graumann: Ich hätte mir das gewünscht von den ganz normalen Menschen. Schon ein bisschen mehr Empathie wäre schön gewesen. Am Ende haben wir es selbst zum Thema machen müssen. Wir haben uns gesagt, wenn es denn sonst keiner zum Thema macht, müssen wir es selbst machen.

Wir haben am 14. September eine große Kundgebung in Berlin veranstaltet "Steh auf, nie wieder Judenhass. Ich glaube, sie war ein klares, deutliches Zeichen: "Wir Juden lassen uns nicht einschüchtern". Wer darauf wartet, der muss lange warten. Aber ich muss doch sagen, noch schöner wäre es gewesen, wenn andere diese Kundgebung veranstaltet hätten.

hr: Hätten Sie sich auch gewünscht, wenn das aus muslimischen Verbänden gekommen wäre?

Graumann: Das nicht. Aber generell gibt es bei muslimischen Verbänden noch Raum für Verbesserung. Wir haben große Schritte auf die muslimischen Verbände zugemacht. Sie mögen es auch nicht leicht haben. Auf der jüdischen Seite gibt es ja nur den Zentralrat, auf der muslimischen Seite gibt es verschiedene Verbände. Da gibt es Fraktionierungen.

Aber ich wünsche mir generell, dass man in den muslimischen Verbänden stärker die Stimme erhebt gegen Radikalismus, Fanatismus und Antisemitismus. Es gibt in muslimischen Gemeinschaften verbreiteten Antisemitismus. Durch Leugnen wird man hier nicht weiterkommen. Da wünsche ich mir manchmal ein Stück mehr Engagement. Da und dort ist es da, aber es könnte noch besser werden.

Starke Wurzeln schaffen

hr: Blicken wir nach vorn. Was erwarten Sie von ihrem Nachfolger?

Graumann: Aus meiner Sicht geht es immer wieder darum, dem Judentum in diesem Land starke Wurzeln zu verschaffen und eine neue, eine frische und vor allem positive Perspektive - obwohl es immer wieder so viele Schläge und Rückschläge gab und gibt.

Das Judentum hat doch ein spirituelle Kraft, die uns aufgibt, niemals aufzugeben, immer wieder positiv voran zu gehen. Ich glaube, wir sollten vermitteln, Judentum hat in Deutschland eine Zukunft und Judentum ist hier auch ein Stück Zukunft.

Das Interview führte Sebastian Kisters für tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 30. November 2014 um 12:00 Uhr.