Tödliche Polizeischüsse Prozess gegen Polizisten beginnt
Im August 2022 wurde die Polizei in Dortmund wegen eines Suizidversuchs gerufen. Kurz danach starb der 16-jährige Dramé in Folge von Polizeischüssen. Heute beginnt der Prozess gegen die Polizisten.
Es war der große Wunsch von Sidy und Lamine Dramé, den Ort zu sehen, an dem ihr Bruder und Sohn am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt von der Polizei erschossen wurde. Ihre Reise aus dem Senegal hierher hat der Integrationsrat der Stadt Dortmund ermöglicht.
Mouhamed Dramé war aus einem Dorf im Senegal geflohen, mit dem Ziel Deutschland. Eineinhalb Jahre war er unterwegs, um hier Geld zu verdienen und seine in einfachen Verhältnissen lebende Familie zu unterstützen. Er war ein fröhlicher Junge, ein Handyvideo zeigt ihn lachend und singend.
Noch einen Tag vor seinem Tod versprach der 16-Jährige seiner Familie, bald Geld zu schicken. Doch wahrscheinlich war er deutlich verzweifelter, als er vorgab. Er lebte in einer Jugendhilfeeinrichtung, litt unter Schlafstörungen, weinte viel, war psychisch labil.
Sidy Dramé schaut sich Dortmund an.
Fünf Schüsse trafen ihn
Am 8. August sitzt er zusammengekauert im Hof, ein Küchenmesser auf sich gerichtet. Der Leiter der Jugendhilfeeinrichtung ruft die Polizei. Zwölf Einsatzkräfte sind vor Ort. Aber auf ihre Ansprache reagiert Dramé nicht, daraufhin setzten sie Pfefferspray ein. Dann soll er aufgestanden und auf die Beamten zugegangen sein. Zwei schießen mit Tasern auf ihn, die sollen aber keine Wirkung gehabt haben. Fast zeitgleich feuert ein Polizist sechs Schüsse mit einer Maschinenpistole auf den Jungen. Fünf treffen ihn und verletzen ihn tödlich.
Anfang November dieses Jahres stehen Sidy und Lamine Dramé an dem Ort, an dem Mouhamed in sich zusammensackte. "Die Art und Weise, wie man Mouhamed getötet hat, das kann für alle eine Lektion sein", sagt sein Bruder Sidy Dramé. "Wir in Afrika verstehen das als Rassismus von den deutschen Polizisten. Das, was sie gemacht haben, ist inakzeptabel." Es sind harte Vorwürfe des ältesten Bruders bei seinem Besuch in Dortmund. Es ist der 7. November, mehr als ein Jahr nach seinem Tod. Der Tag, an dem Mouhammed 18 Jahre alt geworden wäre.
Vater Lamine Dramé bricht in Tränen aus, dreht sich weg, kann den Anblick nicht ertragen. Sidy Dramé irrt umher, macht einen Schritt nach links, nach rechts, weiß nicht, wohin, und weint.
Fünf Polizistinnen und Polizisten angeklagt
Anders als in anderen Fälle von tödlichen Polizeischüssen kommt es jetzt zu einem Prozess. Fünf Polizistinnen und Polizisten sind angeklagt: Der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgefeuert hat, ist wegen Totschlags angeklagt, drei weitere Polizistinnen und Polizisten wegen gefährlicher Körperverletzung - der Einsatzleiter wegen Anstiftung dazu.
Nach Ansicht des Dortmunder Oberstaatsanwalts Carsten Dombert haben die Ermittlungen ein klares Ergebnis geliefert: "Polizeiliches Handeln richtet sich immer danach aus, dass es verhältnismäßig ist. Das heißt, das mildeste Mittel muss gewählt werden, und das war in diesem Fall nicht gewährleistet."
Im Prozess wird wahrscheinlich eine Tonaufnahme eine Rolle spielen, die durch den Anruf des Leiters der Jugendhilfeeinrichtung bei der Notrufzentrale entstanden ist. Dort werden grundsätzliche alle Anrufe aufgenommen, die eingehen. Da der Einrichtungsleiter nicht aufgelegt hat, weiß man zum Beispiel heute, dass keine Sekunde nach dem zweiten Tasereinsatz die tödlichen Schüsse aus der Maschinenpistole fielen.
Überwältigung im Zentrum der Krisenbewältigung
Für den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr ist es ein gutes Zeichen, dass der Fall vor Gericht verhandelt wird. Er ist an der Akademie der Polizei Hamburg Leiter der Forschungsstelle Kultur und Sicherheit und sieht ein Problem in der Ausbildung. Im Zentrum der Krisenbewältigung stehe die Überwältigung des Täters. "Und dabei wird nicht danach geschaut, ob der Täter in einer psychisch labilen Situation ist, ob es andere Unterbrechungsmöglichkeiten gibt, zum Beispiel einfach mal nichts tun und warten."
Schwierig werde es, wenn ein Messer im Spiel ist, sagt Behr. "Das ist das Worst-Case-Szenario. Dann werden alle milderen Interventionsmöglichkeiten untergeordnet und es kommt schneller zum Einsatz der Schusswaffe." Das Fatale: Seit der Terrorgefahr wie in Fällen von Charlie Hebdo gehören die Maschinenpistolen zur Standardausrüstung und kommen zum Einsatz auch gegen suizidgefährdete Jugendliche wie Mouhamed Dramé.
Behr beklagt, die Polizeiführung riskiere, "dass Beamte in diese Situation geschickt werden, die in einem Dilemma mit irreparablen Schäden enden". Schließlich fahre kein Polizist zu einem Einsatz in der Absicht, jemanden zu töten. Aber sie hätten zum Schluss keine anderen Einsatzmittel zur Hand als die tödlichen.
Mouhamed Dramés Vater und Bruder am Einsatzort in Dortmund.
Schulungen und Bodycams
Immerhin, nach dem Fall Dramé hat Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul veranlasst, dass jede Beamtin und jeder Beamte pro Jahr zwei Tage mehr geschult wird als bisher. Außerdem müssen sie jetzt Bodycams tragen - die aber nicht eingeschaltet sein müssen.
Nach dem Besuch an dem Ort, an dem sein Bruder umkam, erzählt Sidy Dramé, dass er seinen Vater gefragt hat, was er von den Blumen und Fotos hielt, die dort zu finden sind. Das sei hier die Tradition, habe der Vater geantwortet. "Ich habe gesagt: Ja, das ist okay", sagt Sidy Dramé. Sie seien froh und dankbar dafür, dass hier auf diese Art und Weise an Mouhamed gedacht werde.
Zum Prozessauftakt werden Vater und Bruder nicht dabei sein. Eine Dortmunder Anwältin vertritt sie aber in der Nebenklage.