Polizei und psychisch Kranke Falsch vorbereitet?
Wenn Polizisten im Einsatz auf psychisch Kranke treffen, kommt es immer wieder zu Gewalt. Nach mehreren tödlichen Vorfällen stellt sich die Frage: Läuft in der Polizeiausbildung etwas falsch?
Anfang Mai sorgte ein Video, das in den sozialen Netzwerken veröffentlicht wurde, bundesweit für Schlagzeilen. Es zeigt, wie ein Polizist einem am Boden liegenden Mann ins Gesicht schlägt. Der 47-Jährige verlor während des Einsatzes das Bewusstsein und verstarb später im Krankenhaus. Ob die Schläge für den Tod des Mannes mitverantwortlich waren, wird weiterhin untersucht. Doch was war geschehen?
Ein Arzt des Zentralinstituts für seelische Gesundheit, einer Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, hatte die Polizei gerufen. Ein Patient der ambulanten Praxis brauchte offenbar Hilfe. Zwei Polizeibeamte entdeckten den psychisch kranken Mann in der Mannheimer Innenstadt. Was dann geschah, ist bis heute nicht geklärt. Ob der Mann die Beamten angriff, zeigen die veröffentlichten Videos nicht. Zwei Augenzeugen sagen dem SWR unabhängig voneinander, dass die Polizisten versuchten, den Mann festzuhalten, dieser sich losriss und davonlief. Die Polizisten folgten dem Mann, der sich offenbar in einem psychischen Ausnahmezustand befand, und setzten Gewalt ein, um ihn zu stoppen.
Eigentlich geschult
Der Einsatz der Polizei in Mannheim zeige ein grundsätzliches Problem im Umgang mit psychisch kranken Menschen, meint der Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes. Eigentlich seien Polizeibeamte geschult, im Umgang mit psychisch kranken Menschen deeskalierend zu wirken, doch diese Ausbildung könne teilweise mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückliegen.
"Deshalb versuchen sie gerade in Situationen wie in Mannheim, wo Menschen drumherum stehen, die Lage möglichst schnell zu Ende zu bringen, das heißt, möglichst schnell die Person zu fixieren und festzunehmen. Und daraus folgt dann manchmal eine überschießende Gewalt", sagt Feltes, der zehn Jahre lang Rektor der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg war.
Ein weiteres Video aus Mannheim zeigt, wie die Beamten offenbar Pfefferspray einsetzen, um den verwirrten Mann aufzuhalten. Für den Kriminologen Feltes ist der Einsatz von Pfefferspray ein grundlegender Fehler im Umgang mit Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation. Die Personen würden dadurch noch aggressiver oder reagieren, panisch und versuchen zu fliehen. Auch der Polizeiwissenschaftler Martin Thüne der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung sagt, Pfefferspray führe in der Regel dazu, dass die Situation weiter eskaliere.
Mannheim ist kein Einzelfall
2013 sorgte ein Fall in Berlin bundesweit für Schlagzeilen. In der Nähe des Alexanderplatzes hatte damals ein Polizist einen schizophrenen Mann, der mit einem Messer bewaffnet war, erschossen. In Bremen starb 2020 ein psychisch kranker 54-Jähriger durch Polizeikugeln, nachdem er ein Messer aus seiner Tasche zog.
Auch in Emmendingen bei Freiburg wurde ein psychisch kranker Mann von einem Polizisten mit drei Schüssen getötet. Dort hatte 2017 ein Mitarbeiter einer Reha-Einrichtung die Polizei gerufen, weil ein Patient sich offenbar laut und aggressiv verhalten hatte. Auch er trug ein Messer bei sich. Als der Mann damit auf die beiden Polizeibeamten zuging, schoss einer der beiden.
Ermittlungsverfahren eingestellt
Aus Sicht des Bruders des Opfers hätten die Beamten deeskalieren müssen. Roland Beyer sagt, sein Bruder habe die Anweisung der Polizisten nicht verstanden, dass er das Messer weglegen, und sich auf den Boden legen soll: "Und so ist es dann dazu gekommen, dass Pfefferspray eingesetzt wurde - und sich mein Bruder noch mehr in Enge getrieben gefühlt hat - und dann sind die Schüsse gefallen." Die Staatsanwaltschaft Freiburg stellte das Ermittlungsverfahren gegen die Beamten ein. Sie hätten in Notwehr gehandelt.
Laut Feltes waren drei Viertel der Opfer, die in den vergangenen Jahren durch die Polizei getötet wurden, psychisch krank. Eine Schätzung, denn eine offizielle Statistik gibt es nicht. Doch die Experten sind sich einig: Mit einer besseren Aus- und Fortbildung könnte ein Großteil der Toten verhindert werden. Auch der Landesverband der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie in Baden-Württemberg fordert nach dem Vorfall in Mannheim ein Umdenken.
Der Landesvorsitzende Klaus Obert sagt, es müsse mehr praxisorientierte Schulungen für Streifenpolizisten geben - und diese müssten auch regelmäßig wiederholt werden. Auch der baden-württembergische Landesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen teilte dem SWR mit, es sei dringend geboten, dass der Kontakt mit psychisch kranken Menschen zu einem festen Bestandteil der Ausbildung von Polizeibeamten werde.
Regelmäßige Trainings
Die Landespolizeipräsidentin von Baden-Württemberg, Stefanie Hinz, weist die Kritik an der Polizeiausbildung zurück. Sie sagt, es gebe regelmäßige Trainings und deshalb sehe sie keine akuten Defizite in der Ausbildung: "Unsere Kolleginnen und Kollegen müssen regelmäßig ein Einsatz-Training absolvieren und im Rahmen dieses Trainings ist auch der Umgang mit psychisch und verhaltensauffälligen Personen ein regelmäßiger Bestandteil."
Auf Anfrage teilten die Innenministerien aller Bundesländer dem SWR mit, dass es in den Ausbildungsplänen aller Polizeischulen explizite Einheiten zum Umgang mit psychisch Kranken gibt. Doch eine verpflichtende Weiterbildung für Beamte, die bereits im Streifendienst aktiv sind, gibt es in keinem Bundesland.