Obdachlosigkeit Wenn psychisch kranke Menschen auf der Straße landen
Viele Obdachlose leiden unter psychiatrischen Erkrankungen. Sie finden oft keine Hilfe. Die Folgen sind dramatisch.
Die Fenster sind weihnachtlich geschmückt, Tannenzweige, Strohsterne, Lichterketten. Auf dem Tisch im Gemeinschaftsraum liegen selbst gebackene Plätzchen. Hier lebt Patrick - noch. Der 21-Jährige muss heute aus der Jugendwohngruppe in Würzburg ausziehen. Die Konsequenzen sind ihm bewusst: "Wenn wir nichts finden, bin ich obdachlos."
Denn trotz aller Bemühungen der Einrichtung konnte keine Wohngruppe für Erwachsene gefunden werden, die Patrick aufnimmt. Er braucht eine spezielle intensivpflegerische Betreuung, da Patrick eine geistige Behinderung hat und seine Wut nicht kontrollieren kann - in der Fachsprache eine der Achse-1-Störungen. Immer wieder rastet er aus, demoliert die Einrichtung, wurde auch schon gegenüber den Pädagoginnen und Pädagogen handgreiflich. Seine Mutter hat 20 Jahre lang für ihren Sohn gekämpft, musste jetzt aber aus gesundheitlichen Gründen die gesetzliche Betreuung abgeben.
Anteil der psychisch Kranken besonders hoch
Dass Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen auf der Straße landen, ist nicht ungewöhnlich: Das Sozialreferat Würzburg gibt an, dass rund 70 Prozent der Obdachlosen in der Stadt zumindest psychisch auffällig sind. Mehrere aktuelle Studien bestätigen das.
Warum der Anteil so groß ist, erklärt der ärztliche Direktor der psychiatrischen Klinik in Lohr, Dominikus Bönsch: "Je komplizierter ein Mensch ist, je mehr Probleme er mitbringt, desto schwieriger wird die passgenaue Versorgung." Die Folge: Menschen wie Patrick bekommen nicht die Hilfe, die sie bräuchten. "Sie landen letztlich in der Obdachlosigkeit."
Ein deutschlandweites Problem, sagt Bönsch. Die Folgen sind dramatisch, denn Menschen wie Patrick landen zunächst in der Wohnungslosenhilfe. Ein Ort, der quasi nicht mehr als ein Auffangbecken zur Unterbringung und Erstversorgung ist. Für die Betreuung der psychisch kranken, obdachlosen Menschen ist sie nicht zuständig.
Gesetzliche Lücke erschwert passgenaue Hilfen
Dabei besteht eine gesetzliche Lücke: Ordnungsrechtlich muss sich die Kommune um die Menschen kümmern, die auf der Straße landen - doch alle weiteren Hilfen fallen unter das Sozialrecht. Darin ist die Eingliederungshilfe verankert, die Unterstützung beim Wohnen, in der Freizeit und für heilpädagogische Leistungen bietet.
Welche Behörde für Leistungen der Eingliederungshilfe zuständig ist, bestimmen die Bundesländer - und die ist bei jeweils verschiedenen Stellen angesiedelt. Es ist ein Flickenteppich.
"Wir werden gezwungen, in diese Lücke reinzuhüpfen", sagt Michael Thiergärtner von der Wohnungslosenhilfe in Würzburg. "Natürlich ist es schwierig, wenn Menschen mit einer Diagnose hierherkommen. Wir sind nicht mit psychiatrischem Fachpersonal ausgestattet."
Obdachlosigkeit als Einbahnstraße?
Gibt es einen Weg raus aus der Wohnungslosigkeit? Ja, sagt Thiergärtner - Projekte wie "Housing First" seien ein erster Schritt. Das heißt: ein Dach über dem Kopf. Viel mehr will auch Patrick nicht.
Vor einigen Wochen war er zum Probewohnen in einer Einrichtung - dann kam die Absage, unter anderem wegen seines teils aggressiven Verhaltens. Keine guten Aussichten. Denn die Wartelisten betreuter Wohngruppen sind lang - gleichzeitig ist der Bedarf offenbar unbekannt.
Bund hat keine eigenen Zahlen zur Wohnsituation
Auf Anfrage verweisen Sozial- und Bauministerium an das Gesundheitsministerium der Bundesregierung. Von dort heißt es wiederum, dass "die Wohnungspolitik als Daseinsfürsorge in engem Zusammenhang mit der Gesundheits- und Sozialpolitik eine wichtige Rolle" spiele. Die Fragen nach dem Bedarf wurden nicht beantwortet.
Die Anfrage in Bayern zeichnet dasselbe Bild: Das Bayerische Sozialministerium erklärt, man wisse nicht, wie viele psychisch kranke Menschen in Bayern einen betreuten Wohnheimplatz benötigten. Das Ministerium verweist auf die Bezirke. Doch auch der Bayerische Bezirketag kann keine Zahlen nennen - und kennt damit letztlich den Bedarf nicht.
Ein Systemfehler, der für Patrick katastrophale Folgen haben kann. Dabei hat er laut Bundesteilhabegesetz ein Recht auf eine für ihn passende Betreuung und auf ein Zuhause. Die drohende Obdachlosigkeit macht ihm große Angst: "Unruhig fühle ich mich. Hab da so eine Unruhe drin in mir."
Hilfesystem in Deutschland zu hochschwellig
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat das Problem erkannt. Eine Lösung könnte sein, kontinuierlich ein medizinisches Hilfsangebot bereitzuhalten, um den wohnungslosen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zur medizinischen Versorgung zu ermöglichen.
Aktuell sei der Zugang zum Hilfesystem zu hochschwellig, kritisiert Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft. Es sei ohnehin schon schwer, Therapieplätze zu bekommen. Hinzu komme, dass Termine verbindlich wahrgenommen werden müssten. Menschen ohne festen Wohnsitz falle das sehr schwer, so Rosenke - vor allem ohne adäquate sozialpädagogische und psychologische Betreuung. Erst recht für Menschen mit kognitiver Einschränkung wie Patrick.
Richterlicher Beschluss: Psychiatrische Klinik
Eine letzte Option ist die Einweisung in eine Klinik. Für Patrick hat das Amtsgericht Würzburg sie kurzfristig bewilligt. Keine echte Perspektive, weiß der ärztliche Direktor Bönsch: "Die Aufgabe eines psychiatrischen Krankenhauses ist die Akutbehandlung." Wenn die abgeschlossen sei, gebe es kein Geld mehr von der Krankenkasse. Genauso, wenn die Gründe für eine Eigen- oder Fremdgefährdung nicht mehr vorliegen. "Die Unterbringung bei uns hat in allen Fällen ein rasches, natürliches Ende und ist nicht unbegrenzt."
Eine Zwischenlösung also. Davon hat Patrick schon viele durchgemacht. Dabei will er endlich einfach nur ein richtiges Zuhause.