Eine Skulptur mit den Buchstaben AIDS vor dem Gropius Bau.
reportage

Leben mit HIV "Darüber sprechen bedeutet Freiheit"

Stand: 01.12.2023 12:23 Uhr

Ob Job, Freizeit, Sexualität oder Familienplanung: Menschen mit HIV können leben wie alle anderen. Das war nicht immer so. Zwei Betroffene erzählen, was sich getan hat und wie schwer die Folgen einer Diagnose auch heute noch wiegen.

Von Helene Fröhmcke, WDR

"Die größte Befürchtung wird wahr: Die Ärzte sagen, mein HIV-Test wäre positiv ausgefallen, das heißt, ich habe den Aids-Virus", schreibt Michael Jähme 1990 in sein Tagebuch. Er ist 32 und die Diagnose HIV-positiv für viele gleichbedeutend einem Todesurteil. Michael geht davon aus, in den nächsten Jahren zu sterben.

2010 schreibt er das hier in sein Tagebuch: "Den 20. Jahrestag meiner HIV-Diagnose habe ich nicht besonders begangen. Ich bin stolz und froh, zwanzig Jahre HIV überlebt zu haben. Das Leben mit HIV war damals nichts Selbstverständliches." Heute ist er 65 Jahre alt und führt ein normales Leben - es geht ihm gut, jedenfalls "was HIV betrifft", sagt er.

Michael Jähme (Archivbild)

Michael 1990 am Brandenburger Tor, das Jahr der Diagnose.

"Auf einmal hast du es einfach"

Nicole Kamga wird 2017 positiv getestet. Damals ist sie 26 und schwanger, das Ergebnis erhält sie bei der Erstuntersuchung der Frauenärztin. Sie weiß, dass HIV-positive Menschen inzwischen bei rechtzeitiger Behandlung eine fast normale Lebenserwartung haben. Moderne Medikamente unterdrücken das Virus, verhindern den Ausbruch der Krankheit. Trotzdem ist die Diagnose für sie damals wie ein Weltuntergang: "Ich hatte noch diese alte Vorstellung von HIV-positiven Menschen. Ich hatte mich damit gar nicht beschäftigt. Ich war noch jung und dachte, warum sollst du HIV bekommen? Und auf einmal hast du es einfach." 

Keiner ihrer ehemaligen Sexpartner, so sagt sie, sei positiv getestet. Mehrere Jahre beschäftigt sie die Frage, wie sie sich angesteckt haben könnte. Auch deshalb entscheidet sie sich für eine Abtreibung, weil sie sich erstmal mit sich selbst und ihrer Diagnose beschäftigen will. "Mit den Medikamenten war alles so wie vorher, also gesundheitlich, aber im Kopf nicht. Ich konnte die Information nicht verarbeiten. Ich habe wirklich viel Zeit dafür gebraucht", sagt sie.

Die Medikamente retteten ihn

Michael nimmt nach seiner Diagnose zunächst keine Medikamente, ihm waren die damals erhältlichen Medikamente zu unsicher. "Ich wollte nicht das medizinische Versuchskaninchen sein", erzählt er. Das geht nur einige Jahre gut, 1998 geht es ihm zunehmend schlechter. Als er fast an einer HIV-typischen Lungenentzündung erkrankt, kommt er nicht mehr drum herum.

Doch mit den Medikamenten kommen die Nebenwirkungen: Trockene Haut, Durchfall, sein Körper verändert sich. Sein Gesicht wirkt eingefallen, die Arme werden dünner, das Fett sammelt sich am Bauch. "Es war sehr schmerzhaft für mich, plötzlich 20 Jahre älter auszusehen. Und da ist es mir klar geworden: HIV ist nicht sexy und HIV macht nicht schön", sagt Michael. 

In den ersten Jahren war er stark verunsichert, trotz der Medikamente. Er wusste nie, welche Langzeitnebenwirkungen auftauchen könnten. Immer wieder ändert sich der Medikamentencocktail, heute nimmt er nur einmal am Tag eine Tablette. Nebenwirkungen bemerkt er keine.

Diskriminierungserfahrungen mit HIV

"Ein gutes Leben mit HIV ist medizinisch möglich - der gesellschaftliche Umgang hängt hinterher", so beschreibt die Deutschen Aidshilfe das Erleben vieler HIV-positiver Menschen. Die Frage, wem man von der Infektion erzählt und wem besser nicht, ist für viele Betroffene heute noch relevant.

Nicole wollte anfangs nicht über ihre HIV-Diagnose sprechen. Nur ihrer Schwester erzählte sie davon. Dann trat sie in ein Netzwerk für Menschen mit HIV und Aids ein. Endlich über ihre Diagnose zu sprechen, war für sie eine Befreiung, sagt sie. Sie konnte ihrer Familie davon erzählen und ihren Freunden.

Nicole Kamga

Nicole vertraute sich anfangs nur ihrer Schwester an. Mittlerweile engagiert sie sich in einem Netzwerk.

Denn auch heute noch erleben HIV-Positive Diskriminierung, besonders oft beim Arzt. Laut einer Studie der Deutschen Aidshilfe bekommen viele nur den letzten Termin am Tag angeboten,  Ärztinnen und Praxispersonal gehen davon aus, dass danach besondere Reinigungsmaßnahmen notwendig seien. Nicole kennt das: "Besonders beim Zahnarzt, die sind die Schlimmsten", sagt sie mit einem bittersüßen Lächeln. Sie erzählt, dass sie erst vor vier Wochen bei einem neuen Zahnarzt gewesen sei. Bei der Begrüßung trug er zwei Handschuhe übereinander.

"Reden hilft"

Nicole spricht mittlerweile offen über ihr Leben mit HIV. Auch wenn sie dann Ablehnung erfährt: etwa beim Dating. Vor vier Monaten lernte sie jemanden kennen und erzählte ihm von ihrer Diagnose: "Es war es, als ob man ihm gesagt hätte, er wäre HIV-positiv und derjenige, der dann krank ist. Er konnte mich danach nicht mal anfassen. Da habe ich gesagt, das brauche ich nicht."

Michael hat sich von Anfang an Hilfe bei Freunden gesucht, merkte aber schnell, dass seine Diagnose schockiert, seine Freunde nicht so für ihn da sein können, wie er es braucht. Er hat sich dann professionelle Hilfe gesucht, arbeitete schließlich selbst der Aidshilfe.

Reden helfe, sagt er und äußert einen Wunsch: "Ich möchte mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch über mein Leben mit HIV reden wie andere Menschen über ihr Familienleben oder ein anderes Leben." Das bedeute Freiheit, sagt er.