Lothar Wieler
Interview

Jahrestag Corona-Lockdown "Dass es so spalterisch wird, hätte ich nicht gedacht"

Stand: 22.03.2024 16:01 Uhr

Lothar Wieler gehörte zu den Gesichtern der Pandemie-Bekämpfung. Im Interview mit tagesschau.de bezweifelt der ehemalige Präsident des Robert-Koch-Instituts, dass die Politik bisher nur die richtigen Lehren aus der Pandemie gezogen hat.

tagesschau.de: Vor vier Jahren begann in Deutschland der erste Lockdown. Wenn Sie heute zurückschauen, was waren die größten Lehren für Sie?

Lothar Wieler: Die Hauptlehre ist sicher, wie leistungsfähig diese Gesellschaft ist, große Probleme zu lösen. Man hat in den ersten Monaten gemerkt, wie unglaublich solidarisch die Leute waren, wie sie sich den Herausforderungen gestellt haben - auch mit unkonventionellen Lösungen. Viele wurden kreativ bei der Lösungssuche.

tagesschau.de: Woran denken Sie da konkret?

Wieler: Es gab diese wirklich großartigen Impfkampagnen. Der Aufbau der Impfzentren, die Logistik zur Verlegung von Intensivpatienten etwa - wie das alles in kürzester Zeit aufgebaut war und funktionierte. Auch die Entwicklung der Corona-Warn-App ist so ein Beispiel. Oder die Konzepte von Schülerinnen und Schülern, um Schulen offen zu halten, dazu gehörten auch die Teststrategien.

Zur Person

Lothar Wieler war von 2015 bis 2023 Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI). Während der Pandemie informierte er zusammen mit dem Bundesgesundheitsminnister und dem Virologen Christian Drosten in wöchentlichen Pressekonferenzen über den aktuellen Stand der Coronakrise.

Wieler ist Veterinärmediziner und Mikrobiologe, habilitierte im Fachgebiet Infektionskrankheiten und Tierseuchen, forschte und lehrte an der Freien Universität Berlin von 1998 bis 2015. Seit April 2023 ist Wieler Sprecher des Digital Health Clusters und Leiter des Fachgebiets Digital Global Public Health am Hasso-Plattner-Institut (HPI), Universität Potsdam.

tagesschau.de: Das klingt alles sehr positiv. Die Corona-Maßnahmen wurden aber stets auch von viel Kritik begleitet.

Wieler: Das war auch nur die eine Seite. Auf der anderen Seite muss man nüchtern betrachten, welche Strukturen es in unserem Land gibt - und wer in der Krisensituation dann wirklich seinen Aufgaben und seiner Verantwortung nachgekommen ist.

Gerade wenn es um Koordinierung und Informationsweitergabe ging, hätte man dies vorab besser planen können: Etwa, welche Gremien auf landes- und bundespolitischer Ebene Aufgaben übernommen haben. Das lief nicht ideal. Da kann man sehr viel daraus lernen.

"Man muss auf einiges kritisch schauen"

tagesschau.de: Wie gut war aus ihrer Sicht das Zusammenspiel zwischen Politik, Gesellschaft und Wissenschaft dabei?

Wieler: Man muss auf einiges kritisch schauen:  Vom Robert-Koch-Institut lag ein mit allen relevanten Institutionen in jahrelanger Arbeit abgestimmter Nationaler Pandemieplan als Rahmenplan vor, der bestimmte Institutionen mit Aufgaben vorsah. Darin waren auch Informationswege beschrieben, damit man koordiniert handelt. Im Nachhinein sieht man in der Umsetzung, dass manche Informationsstränge einfach gar nicht bedient wurden, bestimmte Gremien ihre Aufgaben gar nicht wahrgenommen haben, beziehungsweise sogar neue Gremien installiert wurden.

tagesschau.de: Welches Gremium meinen Sie zum Beispiel?

Wieler: Laut Pandemieplan war die "Ministerpräsidentenkonferenz" gar nicht existent. Es waren andere Wege vorgesehen, wie entschieden wird. Wenn man damit ein komplett neues Gremium aufmacht, muss man natürlich dafür Sorge tragen, dass die Entscheider - also in diesem Fall die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten - zumindest einen einheitlichen Informationsstand haben.

"Vorher klare Regeln aufbauen"

tagesschau.de: Man hat Ihnen zuweilen in den Pressekonferenzen angemerkt, dass Sie sich über unkoordinierte Maßnahmen einzelner Länder geärgert und auch die Politik in ihre Warnungen miteingeschlossen haben.

Wieler: Wenn die Länderchefs in einer nächsten Krise wieder die Entscheider sein sollen, müssten sie vorher klare Regeln aufgebaut haben, wer sie worüber informiert. Und nicht wie letztes Mal, als sich jeder dieser Personen relativ willkürlich einen eigenen Kreis von Beratern gewählt hat, ohne dass es einheitliche Qualifikationsstandards und Wahlregeln dafür gab.

tagesschau.de: Sie spielen auf die Mehrstimmigkeit der Länderchefs in der Pandemie an, wenn es um die geeigneten Maßnahmen ging?

Wieler: In einer Demokratie gibt es immer eine Mehrstimmigkeit, das ist eine ihrer Stärken. Aber die Personen, die so weitreichende Entscheidungen treffen, sollten möglichst den gleichen Wissensstand haben.

tagesschau.de: Das RKI stand ja in der Zeit sehr stark für die Vermittlung aktueller Pandemieinformationen. Weshalb hat das nicht ausgereicht, um die Ministerpräsidentenkonferenz auf so einen Wissensstand zu bringen?

Wieler: Das RKI hat einen klaren gesetzlichen Auftrag, einerseits über das Bundesgesundheitsministerium die Kanzlerin oder den Kanzler, andererseits die Fachöffentlichkeit, das medizinische Fachpersonal zu informieren. Das ist gelungen.

Es ist schade, wenn der Eindruck entstand, dass die wöchentlichen Pressekonferenzen die wichtigste Aufgabe waren. Das RKI hat ja eine Vielzahl von Dokumenten erstellt, mit Empfehlungen als Grundlage für den Umgang mit Covid-Patientinnen und -Patienten sowie Public-Health-Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.

"Es wird solche Tendenzen immer geben"

tagesschau.de: Wir haben eine starke Polarisierung der Gesellschaft in der Pandemie erlebt. Gruppen, die nicht faktenbasiert Impfungen in Frage gestellt haben - oder andere Corona-Maßnahmen. Hätten Sie sich das vorher so drastisch vorgestellt?

Wieler: Dass es so spalterisch und intensiv wird, hätte ich nicht gedacht. Aber es wird solche Tendenzen immer geben. Es gibt Menschen, die bewusst Fehlinformationen streuen. Es ist schwer, dagegen anzugehen. Dem kann man nur fachliche kompetente unaufgeregte Sachlichkeit gegenüberstellen.

tagesschau.de: Hätte man die Polarisierung aus heutiger Sicht verhindern oder verringern können?

Wieler: Wichtig ist ein gutes Bildungsniveau und Einrichtungen, denen man auch Glauben schenkt. Ich bin überzeugt davon, dass die meisten Menschen, die in Deutschland leben, den Informationen des RKI großes Vertrauen schenken.

Natürlich gibt es auch einen wissenschaftlichen Diskurs - da ist die Frage, wie er von politischen Entscheidern und Medien wahrgenommen und für eigene Zwecke genutzt wird. Die Interpretation dieser Information wird deswegen nie einseitig sein.

"Langfristig in kompetente Institutionen investieren"

tagesschau.de: Hat die Politik ihre Hausaufgaben bereits gemacht?

Wieler: Wichtig ist, dass man langfristig in kompetente Institutionen investiert, denen man in solchen Situationen auch Vertrauen schenken kann. Man sieht jedoch gerade in Deutschland, dass das RKI sogar geschwächt wird, obwohl es seiner gesetzlichen Aufgabe in hohem Maße nachgekommen ist. Diese Entwicklung erschwert zukünftig die Weitergabe vertrauensvoller Informationen.

tagesschau.de: Was wäre Ihr Rat an jene, die in einer künftigen Pandemiekrise exponierte Funktionen haben?

Wieler: Dass man nicht so viel spekuliert, dass man sachlich bleibt. Und den zuständigen Institutionen und Gremien genügend Ressourcen gibt, ihren Aufgaben auch nachzukommen.

Das Gespräch führte Corinna Emundts, tagesschau.de.