75 Jahre Grundgesetz "Aus Untertanen sind Staatsbürger geworden"
Der 23. Mai 1949 war der Geburtstag der Demokratie in der Bundesrepublik. Das damals verkündete Grundgesetz verkörpert Lehren aus der NS-Zeit. Wer waren die "Mütter und Väter" der deutschen Verfassung?
Konrad Adenauer, Theodor Heuss oder Carlo Schmid waren die bekannten Namen des Parlamentarischen Rates, der 1949 das Grundgesetz verfasste. Doch wer waren außerdem die "Mütter und Väter" des Grundgesetzes? Und was haben sie in der Nazi-Zeit gemacht?
Insgesamt gehörten dem Rat 77 Personen an. Es gab 65 stimmberechtigte Mitglieder, fünf Vertreter Berlins ohne Stimmrecht und sieben Nachrücker. Man dürfe nicht den Eindruck vermitteln, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates "ausschließlich Gegner des Nationalsozialismus gewesen waren", sagt Jura-Professor Alexander Thiele aus Berlin. "Der Parlamentarische Rat bestand durchaus aus einigen Mitgliedern, die eine NS-Karriere hinter sich hatten."
Es gab Mitglieder mit NS-Karrieren
Da waren zum Beispiel die CDU-Politiker Paul Binder und Hermann von Mangoldt. Paul Binder war in der NS-Zeit stellvertretender Direktor bei der Dresdner Bank und leitete dort die "Zentralstelle für Arisierung". Er war also eingebunden in den Zwangsverkauf und die Zwangsenteignung jüdischen Vermögens. In den 1940er-Jahren arbeitete er eng mit SS-eigenen Firmen im besetzten Osteuropa zusammen und war für Rüstungsfirmen tätig.
Hermann von Mangoldt stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Er machte im nationalsozialistischen Deutschland Karriere als Rechtswissenschaftler. In juristischen Schriften rechtfertigte er die Entrechtung jüdischer Bürgerinnen und Bürgern durch die Nürnberger Rassegesetze. Er schrieb antisemitische Sätze wie: "Die Gefahr der Rassenüberfremdung drohte ernstlich nur von den Juden."
Aber auch viele mit Distanz zum NS-Staat
Wenn man sich die Biografien von allen 77 Mitgliedern, darunter nur vier Frauen, anschaut, fällt jedoch eines auf: Bei keiner und keinem lässt sich eine NSDAP-Mitgliedschaft nachweisen. Katharina Mangold, Jura-Professorin an der Universität Flensburg verweist darauf, dass die NS-Zeit für viele Mitglieder des Parlamentarischen Rates zumindest mit einem Karriere-Bruch einhergegangen sei.
Gewiss seien die meisten keine Widerstandskämpfer gewesen, so Mangold. Aber es gebe einige, die unter dem Nazi-Regime in Konzentrationslager oder Haftanstalten verschleppt oder zur Emigration gezwungen wurden. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags kam 2009 gar zu dem Schluss, "dass eines der einigenden Bänder der Mitglieder des Rates, quer über alle Parteigrenzen hinweg, die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gewesen ist".
Zum Jahrestag des Grundgesetzes hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen Staatsakt angeordnet. Er hält dort heute auch die zentrale Rede. Dabei waren auch Kanzler Olaf Scholz (SPD), die meisten Minister, viele Ministerpräsidenten der Bundesländer sowie Vertreter des Bundestags und weiterer Institutionen. Erwartet wurden insgesamt 1.100 Gäste.
Von Freitag bis Sonntag findet dann im Regierungsviertel ein Demokratiefest statt, zu dem die Bundesregierung die Bürger einlädt.
Die Lebensläufe sprechen eine deutliche Sprache
So etwa SPD-Politiker Fritz Eberhard: Das war der Tarnname des Journalisten Hellmuth von Rauschenplat. Er musste gleich nach 1933 untertauchen. Später gelang ihm die Flucht nach London. Dort arbeitete Eberhard für die BBC.
Hans Reif von der FDP verlor 1933 alle seine Ämter als Wirtschaftsfunktionär. Zusammen mit seiner Frau nahm er vier jüdische Kinder bei sich auf.
CDU-Mann Jakob Kaiser war Reichstagsabgeordneter des Zentrums. Er weigerte sich, bei der Auflösung der christlichen Gewerkschaften mitzumachen. Seine Familie kam in sogenannte "Sippenhaft". Friederike Nadig von der SPD wurde gleich 1933 aus dem öffentlichen Dienst entlassen und mit einem Berufsverbot belegt.
Das Grundgesetz als historische Antwort
Im Parlamentarischen Rat müssen sich also Menschen begegnet sein, die teilweise NS-Karrieren gemacht hatten und andere, die "gerade aus dem KZ mit ihrem Leben davongekommen sind", betont Jura-Professor Alexander Thiele. Ein spannungsvolles Zusammentreffen. Aber eines, das unter einem klaren Motto stand: Nie wieder!
In diesem Geist wurde das Grundgesetz geschrieben. Es sollte Lehren ziehen aus der NS-Zeit. Das betont auch Gerhart Baum. Der frühere Bundesinnenminister und FDP-Politiker war 16 Jahre alt, als das Grundgesetz in Kraft trat. Er betont, dass die Deutschen mit dem Grundgesetz zum ersten Mal wirklich in der Demokratie angekommen seien.
"Und sie haben sich gelöst von einer Entwicklung, die ihre ganze Geschichte bestimmt hat, nämlich eine völkische Gesinnung, eine auf Rasse und Volk und Volkstum und Volksgemeinschaft und Nationalismus gegründete Gesellschaft", sagt Baum. "Die ist abgelöst worden durch das Grundgesetz. Aus Untertanen sind Staatsbürger geworden."
Diese historische Entwicklung kann man auch daran ablesen, wie das Grundgesetz aufgebaut ist. Die Grundrechte stehen bewusst ganz vorne im Verfassungstext, anders als in der Weimarer Reichsverfassung. Und eine Ewigkeitsklausel sichert die Grundsätze unseres Verfassungsrechts: Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat und Sozialstaat. Auch mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat dürfen sie nicht abgeschafft werden.
Das historische Erinnern wird angegriffen
Das Grundgesetz verkörpert Lehren aus der NS-Zeit. Lange war es Konsens in Deutschland, dass das Erinnern an die dunkle deutsche Geschichte zum "Verfassungspatriotismus" dazugehört. Doch dieser Konsens wird angegriffen von Politikern der AfD.
Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke forderte eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Der Verfassungsschutz in Thüringen stuft den AfD-Landesverband als gesichert rechtsextremistisch ein. Dabei hat er auch die Geschichtspolitik der AfD im Blick, die versuche, vor allem eine Opferrolle der Deutschen in der NS-Zeit zu betonen: Bei der AfD bleibe oft "unerwähnt, dass der Zweite Weltkrieg ein Vernichtungskrieg war, der von deutschem Boden ausging und im Sinne einer rassenbiologischen Ideologie geführt wurde". So steht es im Verfassungsschutzbericht 2021.
Die thüringischen Verfassungsschützer bringen damit eine Befürchtung zum Ausdruck, nämlich, dass es eine Gefahr für die Demokratie des Grundgesetzes darstellt, wenn die Geschichte seiner Entstehung vergessen wird.
Das Radio- und Podcast-Feature “Unser Grundgesetz – In guter Verfassung für die Zukunft?“ von Max Bauer hören Sie in der ARD-Audiothek.