Erinnern an Wannsee-Konferenz "Was tun Menschen einander an?"
Am 20. Januar 1942 schmiedeten die Nazis Pläne zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas. Wie wichtig die Erinnerung an die Wannsee-Konferenz gerade heute ist, erklärt der stellvertretende Gedenkstättenleiter im Interview.
tagesschau.de: Am 20. Januar 1942 trafen sich im Haus der Wannsee-Konferenz 15 Verwaltungsbeamte zu einer Besprechung mit anschließendem Frühstück, wie es hieß, um einen Massenmord zu planen. Wie bringen Sie dieses historische Ereignis Kindern und Jugendlichen nahe?
Matthias Haß: Das ist in der Tat eine komplexe Geschichte, die Beteiligung der staatlichen Verwaltung an der Organisation, Planung und Durchführung des Massenmordes zu vermitteln. Wir müssen uns an den Teilnehmern orientieren und das anhand von konkreter Geschichte machen, anhand von konkreten Biografien: Was bringt die Täter dazu, sich an solchen Verbrechen zu beteiligen, und sei es an ihren Schreibtischen? Welche Ideologie steht im Hintergrund von Volksgemeinschaft, von Antisemitismus?
Aber natürlich müssen wir auch die Geschichte der Opfer erzählen. Wir müssen erzählen, was ist den Menschen passiert, die ja nicht erst seit dem Januar 1942 mit Verfolgung konfrontiert sind, sondern gleich nach nach dem 30. Januar 1933 Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung erfahren? Und wie gehen sie damit um? Diese konkrete Geschichte müssen wir erzählen.
Und im Übrigen ist es ja nicht nur für Kinder und Jugendliche interessant, sondern für uns alle. Das ist eine verstörende und irritierende Geschichte, die wir erzählen müssen. Normale staatliche Verwaltung: Von 9 bis 5 wird gearbeitet und Ziel der Arbeit ist die Deportation und millionenfache Ermordung von Menschen. Das ist eine Herausforderung, der wir uns immer wieder stellen müssen.
Matthias Haß ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er leitet die Abteilung Bildung und Forschung.
"Das sind Themen, die junge Menschen interessieren"
tagesschau.de: Es wird seit einigen Jahren beklagt, dass es gerade bei Jugendlichen einen hohen Bildungsbedarf bezüglich der NS-Zeit gibt. Können Sie das aus Ihrer Erfahrung bestätigen, dass das Wissen der Jugendlichen zur NS-Zeit große Lücken aufweist?
Haß: Die Frage ist zweigeteilt. Das eine ist der Bildungsbedarf und das zweite ist der Wissensstand. Der Bildungsbedarf bei uns allen, nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, auch bei den Berufsgruppen, mit denen wir verstärkt arbeiten, ist sehr groß - nach wie vor. Der Wissensstand allerdings - Daten, Zahlen, Fakten - das können wir in der Tat sehen: Das nimmt ab.
Aber das ist für uns nicht das Entscheidende. Das Entscheidende sind die Themen, die Menschheitsthemen, mit denen wir uns beschäftigen: Was tun Menschen einander an? Was passiert einer Gruppe aufgrund von ideologischer Ausgrenzung, antisemitischer Ausgrenzung? Was ist mit der Situation von Menschenrechten? Was ist Ungerechtigkeit? Das sind Themen, die junge Menschen interessieren. Da müssen wir ansetzen.
Da haben die auch einen Anspruch darauf, dass wir ihnen ein Angebot machen mit historischer Bildung, mit politischer Bildung auf unterschiedlichen Ebenen, aber in unserem Bereich eben mit der konkreten Geschichte des Nationalsozialismus. Und das stößt auch immer wieder auf Interesse.
Erinnern ohne Zeitzeugen
tagesschau.de: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die die NS-Diktatur noch selbst erlebt haben, gehen nach und nach von uns. In nicht allzu ferner Zukunft wird es keine mehr geben. Wie kann denn die Lücke, die diese Menschen bei der historischen Bildungsarbeit hinterlassen, geschlossen werden?
Haß: Das ist natürlich ein Phänomen, das wir seit Jahren, Jahrzehnten beobachten. Die Zeitzeugen werden weniger, und das ist ein schmerzhafter Prozess. Gleichzeitig haben wir die Zeugnisse seit Jahren und Jahrzehnten in unterschiedlichster Form, in Video- und Audioform, in literarischer Form.
Der Überlebendenbericht von Primo Levi, der Bericht von Ruth Klüger. Das sind Zeugnisse, die bewegend, beeindruckend sind und mit denen wir arbeiten. Videoaufnahmen, die wir kennen, von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bis heute, gehen ja auch schon in die Jahrzehnte zurück.
Der Film von Karl Fruchtmann "Zeugen - Aussagen zum Mord an einem Volk", der 1981 Überlebende zu Wort kommen ließ, die aus unserer Sicht heute überraschend jung sind und die beeindruckend über ihre Erlebnisse, ihr Überleben berichten, das Sterben, was sie beobachten. Unser Auftrag ist, diese Zeugnisse weiter zugänglich zu machen, einzusetzen und damit eben auch die Berichte derjenigen, die diese Zeit erlebt haben, auch wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind.
Treffen in Potsdam "auch für uns schockierend"
tagesschau.de: Vergangene Woche wurde bekannt, dass in einer Villa in Potsdam, die Luftlinie nur wenige Kilometer von ihrer Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz entfernt liegt, ein Treffen rechter und rechtsextremer Kreise stattfand. Dort diskutierte man unter anderem die Vetreibung von Menschen mit Migrationshintergrund. Welche Herausforderungen ergeben sich denn aus dem Wiedererstarken von rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen?
Haß: Das ist in der Tat auch für uns schockierend. Und die Referenzen, die gemacht wurden, eben gerade zum Ort der Wannsee-Konferenz, die sind ja vielfältig. Ich glaube, wir sind alle in den letzten zehn Jahren überrascht, dass wir an vielen Punkten doch wieder Diskussionen, Debatten und Aufklärungsarbeit leisten müssen, bei denen wir dachten, dass wir sie an einigen Punkten schon hinter uns gelassen haben. Das ist nicht der Fall. Das ist eine Herausforderung.
Das Gespräch führte Ralph Baudach für tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es gekürzt und redigiert.