Strukturwandel auf dem Land Ein Dorf rettet sich selbst
Der Strukturwandel hat das Leben in den kleinen Ortschaften verändert, meist zum Schlechteren. Dass man sich mit Ideen, Engagement und Eigeninitiative dagegen wehren kann, beweist ein 400-Seelen-Dorf im Allgäu.
Wenn ein Fußballplatz, ein Park oder das Feuerwehrhaus einem Dorf oder einer Gemeinde gehören, ist das nicht ungewöhnlich. Aber ein Bauernhof im Dorfeigentum? Das gibt es wohl eher selten.
Das kleine Dorf Kreuzthal in der Adelegg im Oberallgäu mit seinen rund 400 Einwohnern baute gemeinschaftlich einen Ziegenstall mit Käserei und Hofladen. Nicht aus nostalgischen oder touristischen Gründen, sondern aus schierer Not: Die Ziegen sollen den Wald zurückdrängen, der das Kreuzthal zu überwachsen droht. Eine Entwicklung, die den Betriebsleiter Oliver Post seit mittlerweile knapp 30 Jahren begleitet.
Ein sterbendes Dorf wie so viele
Als Oliver und Leona Post 1994 ins Kreuzthal kamen, fanden sie ein lebendiges Dorf mit Post- und Bankfiliale, Dorfladen, Metzgerei und Schreinerei vor - und viele kleine Bergbauernhöfe, die ihre Almen mit ihrem Weidevieh in Schuss hielten.
Um die Jahrtausendwende dann plötzlich der Wandel: Die Bauernhöfe wurden unrentabel und aufgegeben, die Schreinerei machte dicht, der Dorfladen schloss, die Menschen wanderten ab. Das Kreuzthal - ein sterbendes Dorf wie so viele in dieser Zeit. "Die Initialbewegung kam eigentlich aus dem Dorf, weil man gesehen hat: Die ganzen Flächen wachsen zu, die ganzen Höfe schließen. Wir müssen etwas unternehmen", erinnert sich Oliver Post.
Ohne Bergbauern kehrt der Wald zurück
Die Adelegg ist landschaftlich und ökologisch ein Kleinod. Mit ihren einst riesigen Mischwäldern war sie vor 200 Jahren noch eine Glashüttengegend. Die Holzfäller schlugen das Holz für die Brennöfen, und auf den Lichtungen im Wald ließen sie ein paar Rinder grasen. Viele kleine Almen mit artenreichen Bergwiesen entstanden. Und: Licht kam ins Tal. Ohne die Bergbauern und ihre Kühe verbuschen die Flächen jetzt. Und die Büsche, vor allem die Brombeeren setzen sukzessive die natürliche Entwicklung in Gang: Ihnen folgen die Eschen, dann die Fichten - aus Bergwiesen wird Wald.
"Damals hat sich im Ort ein Verein gebildet, der Adelegg-Verein", erzählt Oliver Post. "Weil der Ort oder die Bürger das aufhalten wollten, weil die das auch verstanden haben, dass ohne das Hinterland das Dorf eigentlich auch nicht mehr existenzfähig ist."
Oliver Post kam 1994 ins Kreuzthal. Er betreibt einen Ziegenhof.
Mit Ziegen gegen die Verschattung kämpfen
Aus dem Adelegg-Verein geht die Bürgerstiftung Kreuzthal hervor. Und die sammelt Spenden, gewinnt Unterstützer und kann schließlich 2015 einen Landschaftpflegehof bauen: den Kreuzthaler Ziegenhof. Pächter Oliver Post lässt seine Ziegen zusammen mit rund 130 Pensionsrindern auf den Bergwiesen grasen, und diese Gemischtbeweidung zeigt Wirkung.
"Die Ziegen fressen genau das, was die Rinder stehenlassen", sagt er, "also die Brombeeren, diese ganzen Rosenbüsche, die Dornsboschen und so weiter". Rund 130 Hektar Bergwiesen, kleinstrukturiert und in Steillagen, werden auf diese Weise offengehalten.
Kleine Almen mit artenreichen Bergwiesen prägen die Landschaft.
Eine Dorfgemeinschaft, die die richtigen Weichen stellt
Der unbedingte Wille der Kreuzthaler, ihrem Dorf eine Zukunft zu geben, beschränkt sich aber nicht auf die Landschaftspflege, er belebt auch das Dorf. Heute ziehen wieder junge Familien zu.
Sabine Wehr ist mit Mann und Sohn 2016 von Kempten ins Kreuzthal gekommen. Neben traumhafter Landschaft hat sie hier einen Breitbandanschluss fürs Homeoffice, fünf lebendige Vereine, eine Schulbusverbindung in die nächste Stadt, ein Wirtshaus (das ebenfalls der Dorfgemeinschaft gehört) und sogar ein über 80 Jahre altes Freibad, das die Kreuzthaler instand halten - der Treffpunkt für die vielen Kinder, die es jetzt wieder gibt.
Sabine Wehr ist seit 2016 im Kreuzthal. Bereut hat sie es seither nie.
"Wir haben hier alles, was wir brauchen"
Das Herzstück des Dorfes aber ist der neu eröffnete Dorfladen. "Unser Dorfladen ist komplett ehrenamtlich. Das ist ins Leben gerufen worden vom Adelegg-Verein", erklärt Sabine Wehr. "Hier ist alles von Einkauf, Verkauf, die ganze Pflege komplettes Ehrenamt".
Und weil man das hier im Kreuzthal so macht, packt auch sie mit an: Sie vertritt das Dorf mittlerweile im Gemeinderat. Hat sie es je bereut, hierher, ans Ende der Welt beziehungsweise ans Ende von Bayern gezogen zu sein? "Nie - nie!", sagt Sabine Wehr und lacht. "Wir haben hier alles, was wir brauchen."