Teilnehmer eines Kultur-Picknicks in Sangerhausen

Demografischer Wandel Dem Rest Deutschlands voraus

Stand: 20.07.2024 10:43 Uhr

Prognosen sagen Teilen Ostdeutschlands einen weiteren Bevölkerungsschwund voraus. Schon heute gelten die Regionen als überaltert. Doch Politik und Engagierte vor Ort wehren sich nach Kräften gegen die "Depression".

Wilfried Riß braucht einen Satz, um zu sagen, wofür Studien viele Seiten brauchen: "Die Leute hier lassen das meiste Geld in der Apotheke." Riß, ein 76-jähriger Rentner, ist zum Einkaufen nach Eisleben gefahren. Er hält Erdbeeren vom Wochenmarkt in den Händen.

Eisleben liegt im Landkreis Mansfeld-Südharz, Sachsen-Anhalt. Mit einem Durchschnittsalter von mehr als 50 Jahren ist es eine der ältesten Regionen Deutschlands. Beim Einkommen bewegt sich der Kreis im unteren Zehntel.

Bevölkerungsrückgang um fast ein Viertel erwartet

Die Bevölkerung schrumpfte zwar schon zu DDR-Zeiten. Doch seit 1990 hat der Kreis, bis dato bekannt für Bergbau und Landwirtschaft, ein Drittel seiner Einwohner verloren. Bis 2045 könnte noch ein Viertel dazukommen. Das sagt eine Prognose des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Andere Institute sehen es ähnlich.

Riß ist noch da. Bis zur Wende war er Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, trat dann in die SPD ein, fuhr Bus, arbeitete schließlich als Ausbilder für einen Lebensversicherer. Die Kinder aber gingen "dem Geld hinterher".

Wer als älterer Mensch heute noch gesund sei, falle schnell in ein Loch, sagt Riß. "Die anderen haben wenigstens ihre Pfleger."

Landrat Schröder: "Geschichte positiv erzählen"

Auf der Website des Landkreises klingt das anders. "Haben Sie Lust auf ein modernes Leben in der Mitte Deutschlands?", fragt Landrat André Schröder dort. Der CDU-Politiker ist der oberste Werber für den Kreis.

In seinem Büro in Sangerhausen holt Schröder zur Generalabrechnung aus. Wenn es in der Presse oder Wissenschaft heiße, Mansfeld-Südharz sei eine "Problemregion" oder tauge zum "ökologischen Ausgleichsgebiet", dann werde damit eine selbsterfüllende Prophezeiung geschaffen.

Schröder spricht von einer "Depression", die teilweise selbst auf die Kommunalpolitik durchschlage. Dabei könne der Landkreis jedem "den roten Teppich ausrollen". Er listet auf: wunderschöne Wohngegenden, niedrige Immobilienpreise, geringe Lebenshaltungskosten. "Bei uns können Eltern ihre Kita auswählen", sagt er. Bis 2025 werde jeder Haushalt schnelles Internet haben.

André Schröder sitzt an seinem Schreibtisch.

CDU-Landrat André Schröder ist der oberste Werber für den Kreis Mansfeld-Südharz.

Es fahre vielleicht kein ICE nach Berlin, aber ein Regionalexpress nach Halle, Erfurt, Kassel und Magdeburg. Mit dem Auto sei man dank eines Netzes von Autobahnen und Bundesstraßen schnell in Erfurt oder Leipzig. Zumal der ADAC ausgerechnet habe, dass die Region das niedrigste Staurisiko in Deutschland habe.

Auch das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, sei hier zehnmal niedriger als in der nächsten Großstadt, sagt Schröder. Seine Botschaft lautet: "Wir wollen unsere Geschichte positiv erzählen, Chancen beschreiben und nach vorne schauen."

Besonders hohes Durchschnittsalter

Laut dem BBSR wird es in Deutschland 2045 mehr als zwei Millionen Menschen mehr im Rentenalter geben als heute. Gleichzeitig würden ländliche Regionen in nahezu allen Flächenländern schrumpfen. Ein besonders hoher Rückgang wird in einigen ostdeutschen Regionen wie Mansfeld-Südharz erwartet.

Ulli Schäfer, Landrat des Kreises Greiz in Thüringen, sagt, durch die besonders starke Abwanderung nach der Wende fehlten heute Einwohner in zweiter und dritter Generation. Ob es dabei bleibe, sei aber ungewiss. Bei den Prognosen handele es sich lediglich um Modellrechnungen.

Zunehmend würden sich auch Menschen aus Westdeutschland in Greiz ansiedeln. "Unser Anliegen ist es, dass wir eine gute Region zum Arbeiten und Leben sind", sagt Schäfer. Und man solle doch erstmal versuchen, in einer Großstadt einen Handwerker zu finden.

Karte mit den Landkreisen Mansfeld-Südharz, Spree-Neiße, Greiz

Im Landkreis Spree-Neiße im Südosten Brandenburgs ist die Einwohnerzahl zuletzt sogar konstant geblieben. Landrat Harald Altekrüger sieht das als Ausweis "für gute Lebensbedingungen" in seinem von Natur und Strukturwandel geprägten Kreis.

Greiz und Spree-Neiße teilen sich mit Mansfeld-Südharz das hohe Durchschnittsalter. Gewissermaßen haben sie bereits durchgemacht, was dem Rest Deutschlands noch bevorsteht: Während andere Kommunen in den nächsten Jahrzehnten erheblich altern werden, wird sich das Durchschnittsalter hier kaum noch verändern.

Anpassung und Entgegnung des Wandels

André Schröder reagiert mit einer Doppelstrategie aus "Anpassung und Entgegnung". So wird die Infrastruktur schrittweise barrierefrei gemacht: Schwimmbäder, generationengerechte Wohnprojekte. Die Zahl der Wohnungen sei gesunken, die Wohnqualität aber stark gestiegen. Ein "Welcome Center" begleitet junge Familien.

Mit 150.000 Euro pro Jahr unterstützt der Kreis zudem Praxisgründungen von Ärzten, Facharztanstellungen und einzelne Medizinstudenten. Gerade konnte Schröder so eine neue Kiefer- und Gesichtschirurgin in Eisleben begrüßen. 

Auch der Landkreis Spree-Neiße vergibt Stipendien für angehende Ärzte und Zahnärzte. Alle Kommunen sind Teil eines landesweiten Pflege-Pakts. Zudem bietet der Kreis selbst in kleineren Gemeinden Beratungen zur Pflege an.

Nach den Sommerferien öffnet eine neue Gesamtschule. Den Bau hat der Kreis mit 48,5 Millionen Euro selbst finanziert. In der Kleinstadt Guben an der Neiße lädt eine eigene Willkommensagentur interessierte Familien zum mehrwöchigen "Probewohnen" ein.

In Greiz verweist Landrat Schäfer auf sanierte Kindergärten und Schulen. Junge Menschen werden zudem noch in der Schule an die heimische Wirtschaft herangeführt.

Doch reicht das? Die Landräte sehen Bund und Länder vor allem in der Verantwortung, wenn es um Mittel für Infrastruktur, medizinische Versorgung, ÖPNV und Bildung geht.

Ulli Schäfer plädiert dafür, Fördervorgaben zu entschlacken und den Kommunen generell mehr Geld zu geben. "Die gewählten Volksvertreter vor Ort wissen am besten, was die wichtigsten Herausforderungen sind", sagt er. Eine stärkere kommunale Selbstverwaltung würde zudem mit greifbaren Ergebnissen "Demokratie erlebbar" machen. 

8.500 Menschen pendeln täglich

André Schröder wäre schon zufrieden, wenn die Kreise weniger Aufgaben übernehmen müssten. Mut macht ihm die Wirtschaft - trotz einer Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent. Die Zahl der abhängig Beschäftigten sei konstant um die 50.000 geblieben. Auch weil die Lebensälteren länger in ihren Jobs blieben. Die Jugendarbeitslosigkeit habe sich mehr als halbiert. "Das hat uns keine Prognose zugetraut", sagt er.

Schröder will die Wahrnehmung seines Kreises drehen. "Wir exportieren das Wichtigste für diese Gesellschaft: Arbeitskräfte und Energie", sagt er. Der Windstrom aus Mansfeld-Südharz wird zur Hälfte anderswo verbraucht. 8.500 Menschen pendeln täglich aus dem Kreis zur Arbeit. Und wenn Schröder nicht gleich hinterschieben würde, dass er zumindest Letzteres ändern wolle, müsste man sagen, er übertreibt es mitunter auch mit dem Perspektivwechsel.

Blick auf den Markt in Eisleben mit der Kirche St. Andreas.

Eisleben liegt im sachsen-anhaltinischen Landkreis Mansfeld-Südharz. Der Kreis ist eine der Regionen Deutschlands mit den ältesten Einwohnern.

Zurück auf dem Marktplatz von Eisleben erzählt Rentner Wilfried Riß vom Seniorenrat der Stadt. Riß ist dessen Vorsitzender. Sie organisieren Busfahrten zu Kulturveranstaltungen und setzen sich dafür ein, dass der ÖPNV in kleineren Ortschaften wieder ausgebaut wird. Ein Verein heißt "Nicht-allein-Zuhause" und veranstaltet regelmäßig ein Seniorenfrühstück in Eisleben.

"Meckern allein bringt nichts", sagt Riß. Er stehe für Hilfe zur Selbsthilfe.

In einer früheren Fassung hieß es, Wilfried Riß sei nach der Wende Bürgermeister einer kleinen Gemeinde gewesen. Er war allerdings bis zur Wende Bürgermeister. Wir haben dies korrigiert.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 19. Juni 2024 um 13:06 Uhr.