BVerfG-Urteil zur Strafverfolgung Reform kassiert, Angehörige enttäuscht
Das Bundesverfassungsgericht hat die neue Regelung gekippt, mit der Freigesprochene wegen neuer Beweise nochmals angeklagt werden können. Unter den Richtern gab es aber Uneinigkeit. Und auch die Reaktionen sind gemischt.
Im Jahr 1981 wurde die damals 17-jährige Frederike von Möhlmann tot aufgefunden - vergewaltigt und ermordet. Ein Verdächtiger wurde schnell gefasst. Zwei Jahre später aber, 1983, wurde er rechtskräftig freigesprochen. Jahrzehnte später, im Jahr 2012, tauchten im Zuge einer DNA-Analyse neue Beweise auf, die den Freigesprochenen schwer belasteten. Doch ein neuer Prozess war wegen des rechtskräftig gewordenen Freispruchs nicht möglich.
Der mittlerweile verstorbene Vater der Ermordeten wollte das nicht hinnehmen. Er kämpfte viele Jahre für eine Gesetzesänderung - mit Erfolg: Vor zwei Jahren sorgte die Große Koalition von Union und SPD dafür, dass bei besonders schweren Verbrechen wie Mord oder Kriegsverbrechen ein neuer Prozess trotz rechtskräftigen Freispruchs möglich ist, wenn es neue Beweise gibt.
Der Verdächtige im Fall Möhlmann wurde daraufhin im vergangenen Jahr erneut angeklagt. Dagegen legte dieser Verfassungsbeschwerde ein.
"Der Stachel sitzt tief, es geht nicht vorbei"
Voller Zuversicht war der Rechtsanwalt der Familie von Möhlmann, Wolfram Schädler, heute nach Karlsruhe gekommen - in der Hoffnung, dass die Gesetzesänderung Bestand haben wird. Kurz vor der Urteilsverkündung sagte er, er habe noch mit der Schwester der Ermordeten telefoniert, die ihm folgendes mit auf den Weg gegeben habe:
Wenn wir das Gerichtsverfahren durchführen können, dann kann unsere Familie endlich zur Ruhe kommen. Dieser Stachel sitzt ganz tief, und es geht nicht vorbei.
Einen neuen Prozess gibt es nicht
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist klar: Einen neuen Prozess gegen den Verdächtigen wird es nicht geben. Die Gesetzesänderung in der Strafprozessordnung sei verfassungswidrig und damit nichtig, so die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts Doris König:
Mangels Rechtsgrundlage kann das Wiederaufnahmeverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht fortgesetzt, sondern muss beendet werden.
Rechtssicherheit des Einzelnen wichtiger
In seiner Entscheidung verweist das Bundesverfassungsgericht auf Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz. Danach ist es verboten, jemanden aufgrund derselben Tat zweimal zu bestrafen. Das Verfassungsgericht hat nun vorgegeben, wie diese Vorschrift im Grundgesetz auszulegen ist. Es sei auch verboten, jemanden mehrmals aufgrund derselben Tat strafrechtlich zu verfolgen.
Sprich: Wer rechtskräftig freigesprochen wurde, soll nicht ständig befürchten müssen, dass ihm erneut der Prozess gemacht wird. Hier habe die Rechtssicherheit des Einzelnen, des Freigesprochenen ein höheres Gewicht als der Anspruch des Staates auf Strafverfolgung.
Die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts sagt: "Er soll und muss darauf vertrauen dürfen, dass er nach dem Abschluss eines regelgemäß durchgeführten strafgerichtlichen Verfahrens nicht nochmals wegen derselben Tat vor Gericht gestellt werden kann."
Uneinigkeit innerhalb des BVerfG-Senats
Dieser Entscheidung dürften große Auseinandersetzungen im achtköpfigen Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts vorausgegangen sein. Die Entscheidung erging in Teilen mit sechs zu zwei Stimmen. Richter Peter Müller und Richterin Christine Langenfeld gaben ein Sondervotum ab. Tenor: Dass bei neuen Beweisen ein zweiter Prozess im Prinzip möglich sein soll, sei ausnahmsweise verfassungsrechtlich zulässig.
Eines ihrer Argumente: Der Rechtsfrieden in der Gesellschaft könne beschädigt werden, wenn jemand bei schwersten Verbrechen wie Mord trotz erdrückender Beweislage straflos bleibe. Doch mit ihren Rechtsauffassungen konnten sie sich bei den Beratungen über das Urteil nicht durchsetzen.
Gerichtsvizepräsidentin König machte deutlich, dass auch der Senatsmehrheit die Entscheidung nicht leichtgefallen sei.
Dem Senat ist bewusst, dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist.
Anwaltverein begrüßt das Urteil
In einer schriftlichen Stellungnahme begrüßte der Deutsche Anwaltverein das Urteil. Das Gesetz habe faktisch eine unbegrenzte Möglichkeit zur Wiederaufnahme von Mordverfahren geschaffen. Freigesprochene hätten sich nie sicher sein können, sich nicht erneut in der gleichen Sache auf der Anklagebank verteidigen zu müssen. Dies sei mit Blick auf den Rechtsstaat nicht hinnehmbar.
Enttäuschung bei der Familie des Opfers
Der Anwalt der Opferfamilie reagierte dagegen sichtlich enttäuscht auf die Entscheidung. Die Schwester des Opfers hätte ihm nach der Urteilsverkündung telefonisch mitgeteilt, dass sie sich alleingelassen fühle.
Das ist kein Tag der Gerechtigkeit. Weder für die Familie von Möhlmann noch für viele von uns, die darauf gehofft haben, dass jemand wegen eines falschen Freispruchs doch noch überführt werden kann.
Aktenzeichen: 2 BvR 900/22