Extremismus-Experte kritisiert Politik "Heidenau ist ein Fanal für Jahre"
Weniger Worte, mehr Taten und ein klares Bekenntnis zur Hilfe fordert Extremismus-Experte Hajo Funke von deutschen Politikern in der Flüchtlingsfrage. Im Interview mit tagesschau.de erklärt der Politologe, wie es zur Eskalation von Heidenau kommen konnte.
tagesschau.de: Bundestagspräsident Norbert Lammert, immerhin zweiter Mann im Staat, hat die Übergriffe gegen Flüchtlinge in Heidenau als "Schande für unser Land" bezeichnet. Ist das das richtige Statement zur richtigen Zeit?
Hajo Funke: Das Statement kommt zu spät. Die Schande besteht darin, dass Polizei und Politik in Sachsen zwei Tage lang versagt haben. Dieses Versagen von Polizei und Politik erinnert stark an die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vom August 1992. Dort wie jetzt in Heidenau hat man die Eskalation hingenommen. Das ist ein Fanal für Jahre.
tagesschau.de: Wann beginnt das Versagen der Politik?
Funke: Seit einem Jahr hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bitte vorliegen, die Hilfe für die Kommunen über die Länder, was die Versorgung von Flüchtlingen angeht, aufzustocken. Das ist nicht ausreichend geschehen. Man wartet auf einen sogenannten Flüchtlingsgipfel, der noch einmal verschoben wurde.
Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière wirkt zögerlich, was leider seinem politischen Profil entspricht. So lässt er scheinbar entschiedenen Worten nur wenig Taten folgen. Wenn er sagt "Wir sind nicht überfordert, wir machen das", dann muss er es eben auch machen.
tagesschau.de: Welches Zeichen müssen deutsche Spitzenpolitiker jetzt setzen?
Funke: Die Politik muss sich ohne Wenn und Aber dazu bekennen, Flüchtlingen helfen zu wollen, an deren Seite zu stehen. Alles andere hieße, die Dramatik der Lage in Syrien, Afghanistan, Libyen und auch im Irak zu verkennen.
Eine ganze Region ist nach dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak ins Rutschen gekommen. Deswegen geht es jetzt auch in Deutschland weniger um Zeichen als um operatives Krisenmanagement, das Chefsache oder Chefinnensache sein muss.
tagesschau.de: Wie muss dieses Krisenmanagement aussehen?
Funke: Die Hilfe für die Kommunen muss schnell aufgestockt werden, am besten heute noch. Und: Die Kommunen müssen mit diesem Geld auch bürokratiearm arbeiten können. Dabei kommt es auch darauf an, dass ziviles und behördliches Engagement Hand in Hand gehen. In Berlin-Moabit hat die Initiative "Moabit hilft" mehr für Flüchtlinge getan als das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales.
Anders als in den 1990er-Jahren ist diese Einstellung der Bevölkerung eine große Chance, wie man zum Beispiel in Oranienburg sieht. Da entsteht Expertise, wie beim dortigen Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke. Die muss bundesweit genutzt werden.
Und: Die Politik muss Rechtsextremismus im Ansatz bekämpfen. Die Sächsische Schweiz ist seit mehr als einem Jahrzehnt als Hochburg der Neonazis bekannt. Die NPD sitzt mit bis zu 20 Prozent in den kommunalen Vertretungen, in Heidenau sind es immerhin 7,5 Prozent.
tagesschau.de: Warum hat die Politik die Situation nicht besser vorbereitet?
Funke: Der Fehler lag in der falschen Reaktion auf die Pegida-Bewegung. Auch hier war die Abgrenzung nicht eindeutig genug. Den Vorwurf muss sich auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel gefallen lassen, der sich Anfang des Jahres zum Teil recht verständnisvoll über Pegida-Anhänger geäußert hat.
Dabei ist es immer Gegenstand von Politik, mit den Ängsten der Menschen umzugehen. Aber es muss der Politik darum gehen, Ängste abzubauen, und nicht darum, Parolen aufzunehmen und diese dann noch zu verstärken. Politik, die Ängste vielleicht auch nur indirekt schürt, ist immer gegen die Demokratie gerichtet.
Fakt ist: Nach den rassistisch gefärbten Demonstrationen verzeichneten wir in nur vier Monaten doppelt so viele Übergriffe gegen Flüchtlingsheime wie vorher. Das ermutigte Nachahmertäter. Im Schatten von Pegida konnten sich die Rechtsextremen reorganisieren.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de