Fragen und Antworten Was soll sich beim Wahlrecht ändern?

Stand: 24.10.2012 17:21 Uhr

Dem Wahlrechtskompromiss von vier der fünf Bundestagsfraktionen gingen zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts und ein jahrelanger Streit zwischen den Parteien voraus. tagesschau.de erklärt, wie die Änderungen im Wahlrecht aussehen sollen und warum sie nötig wurden.

Warum hat Deutschland derzeit kein gültiges Wahlrecht?

2008 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Teile des deutschen Wahlrechts verfassungswidrig sind, da sie gegen die "Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl" verstoßen. Die Karlsruher Richter gaben dem Bundestag eine Frist von drei Jahren, um eine Änderung des Wahlrechts auf den Weg zu bringen. Erst mit einiger Verspätung setzte die schwarz-gelbe Koalition 2011 eine Wahlrechtsreform gegen den Willen der Oppositionsparteien durch. Damit verstieß sie gegen ein ungeschriebenes Gesetz: Zuvor war es gute Tradition, dass sich Abgeordnete aller Fraktionen und Politiker aller Parteien in Bezug auf das Wahlrecht verständigen.

Die Wahlrechtsreform von 2011 wurde im Juli 2012 allerdings erneut vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Das neue Wahlrecht verstoße gegen die "Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl" sowie die vom Grundgesetz garantierte "Chancengleichheit der Parteien". Sie beanstandeten drei zentrale Elemente der Wahlrechtsreform von 2011: den Effekt des "negativen Stimmgewichts", die Vergabe von "Zusatzmandaten" im Zuge einer "Reststimmenverwertung" und die "ausgleichslose Ermöglichung von Überhangmandaten".

Damit gaben die Richter Verfassungsklagen der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen sowie von mehr als 3000 Bürgern statt. Jetzt muss noch vor der Bundestagswahl im Jahr 2013 ein neues Wahlrecht beschlossen werden.

Wie kommt es zu Überhangmandaten?

In Deutschland gibt es das so genannte personalisierte Verhältniswahlrecht, bei dem der Wähler zwei Stimmen hat. Einfach und klar verläuft der Weg noch bei der Erststimme: Mit ihr wählt der Bürger direkt "seinen" Bundestagsabgeordneten. Der Kandidat, der im Wahlkreis die meisten Kreuze bekommt, hat damit das Direktmandat erhalten und zieht auf jeden Fall in den Bundestag ein.

Komplizierter wird es bei der Zweitstimme: Mit ihr entscheidet sich der Wähler für die Partei, die er in der Verantwortung sehen möchte. Damit bestimmt er grundsätzlich, in welchem Kräfteverhältnis die Parteien im Bundestag vertreten sein sollen. Die Zweitstimme ist entscheidend für die Verteilung der Mandate insgesamt. Wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate mittels der Erststimme gewinnen konnte, als ihr nach dem proportionalen Verhältnis der in diesem Land abgegebenen Zweitstimmen an Sitzen zusteht, kommt es zu so genannten Überhangmandaten. Entfallen auf Partei X also nach den Zweitstimmen 15 Sitze, hat sie zugleich aber 17 Direktmandate errungen, bekommt sie nicht 15, sondern 17 Abgeordnete. Die Zahl der Sitze im Bundestag wird im diesem Fall um 2 Sitze erhöht.

Überhangmandate begünstigen in der Regel die großen Parteien. Bei der Bundestagswahl 2009 haben davon vor allem CDU und CSU profitiert.

Was ist das "negative Stimmgewicht"?

In Zusammenhang mit den Überhangmandaten kommt es regelmäßig zum Effekt des "negativen Stimmgewichts". Dabei kann der absurde Fall eintreten, dass eine geringere Zahl von Zweitstimmen für eine Partei günstiger sein kann, wenn sie in einem Land mehr Direkt- als Listenmandate gewinnt. Dieses Phänomen kommt durch die Verrechnung von Erst- und Zweitstimmenmandaten im Bundeswahlrecht zustande.

Diese Verrechnung ist sehr kompliziert. Vereinfacht kann man sagen: Überhangmandate werden nicht zwischen den Bundesländern verrechnet, Mandate nach Zweitstimmen jedoch schon. Mehr Mandate nach Zweitstimmen für das eine Bundesland können dazu führen, dass aus einem nicht verrechenbaren Überhangmandat ein verrechenbares Zweitstimmenmandat wird, das dann an ein anderes Bundesland abgegeben werden muss.

Gibt es dafür Beispiele von den bisherigen Bundestagswahlen?

Der Effekt des negativen Stimmgewichts wurde bei Bundestagswahlen mehrfach nachgewiesen. Ein Beispiel von 2002: Hier hätte die SPD mit 50.000 Brandenburger Zweitstimmen weniger ein weiteres Mandat in Bremen für sich verbuchen können. Damals entfielen bundesweit nach Zweitstimmen auf die SPD 247 Mandate. Die Sitzverteilung nach Ländern ergab zehn Mandate für Brandenburg und zwei für Bremen. Die Sitzverteilung mit 50.000 Stimmen weniger in Brandenburg hätte für Brandenburg neun Mandate nach Zweitstimmen sowie ein Überhangmandat ergeben. Auf Bremen wären drei Mandate nach Zweitstimmen entfallen, weil sich durch weniger Brandenburger Zweitstimmen das Sitzeverhältnis der Länder untereinander verändert hätte.

Worauf haben sich die Fraktionen jetzt geeinigt?

Alle Fraktionen im Bundestag - mit Ausnahme der Linksfraktion - haben sich nach monatelangem Ringen auf ein so genanntes Ausgleichsmodell geeinigt. Hier werden Überhangmandate am Ende durch "Ausgleichsmandate" ausgeglichen, damit das Größenverhältnis zueinander gewahrt bleibt. Das bedeutet: Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise und damit mehr Direktkandidaten als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis eigentlich zustehen, dann bekommen alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien so viele zusätzlichen Mandate, bis das Verhältnis insgesamt wieder stimmt.

Die Richter hatten in ihrem Urteil von Ende Juli 2012 erst einen Ausgleich ab 15 Überhangmandaten gefordert. Davon sehen die Fraktionen bei ihrer jetzigen Einigung ab.

Die Folge ist, dass der Bundestag künftig erheblich mehr Abgeordnete haben dürfte, als die regulären 598 Mandate. Experten rechnen mit über 670 Abgeordneten. Eine zwischenzeitlich diskutierte Obergrenze für die Mandatszahl im Bundestag wurde in dem Kompromiss nicht festgelegt.