Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau
FAQ

BGH zum Fall Gröning Was ist das Besondere am Gröning-Beschluss?

Stand: 28.11.2016 19:10 Uhr

Der BGH hat das Urteil gegen den SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen bestätigt. ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam zeigt die Hintergründe auf und erläutert, warum die Entscheidung historische Bedeutung hat.

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Was ist das Besondere am heutigen Urteil?

Der Fall Gröning bot dem Bundesgerichtshof die Gelegenheit, nach vielen Jahrzehnten wieder ein höchstrichterliches Urteil zur Frage zu sprechen: Wann kann man jemanden, der als SS-Mann in einem Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz war, wegen "Beihilfe zum Mord" bestrafen? Wegen des hohen Alters von Gröning war das Verfahren ein Wettlauf mit der Zeit. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden nur wenige SS-Mitglieder, die in Konzentrationslagern Dienst getan hatten, zur Rechenschaft gezogen. Dies hatte verschiedene Gründe. Der Juristische: Die Justiz war für eine "Beihilfe zum Mord" in Auschwitz lange Zeit davon ausgegangen, dass man dem Angeklagten die Beteiligung an konkreten Morden, also an einzelnen Taten nachweisen müsse. Das war bei der immensen Zahl der einzelnen Morde so gut wie unmöglich.

2011 leitete das Urteil des Landgerichts München gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk eine Art Trendwende ein. Auch der Dienst als Wachmann in einem KZ könne als Beitrag zur Tötungsmaschinerie juristisch als "Beihilfe" gewertet werden. Demjanjuk starb aber, bevor der BGH sich mit der neuen Linie befassen konnte. Oskar Gröning wurde mit ähnlichen Argumenten vom Landgericht Lüneburg wegen "Beihilfe zum Mord" verurteilt. Gespannt haben viele darauf gewartet, ob das Urteil des Landgerichts Lüneburg rechtskräftig wird, der Fall Gröning das neue Grundsatzurteil werden kann.

Wie wurde NS-Unrecht auch "kleinerer Rädchen" von der Justiz verfolgt?

Insgesamt sind viele NS-Täter in der Nachkriegszeit von der Justiz nicht zur Verantwortung gezogen worden. Zwar bestätigte der BGH in den 60er-Jahren Verurteilungen wegen Beihilfe zum Mord in einigen Vernichtungslagern. Ein wichtiger Schritt war auch die "Auschwitz-Prozesse" am Landgericht Frankfurt ab 1963. Sie hatten das Grauen der Konzentrationslager erstmals so richtig ins öffentliche Bewusstsein der Bundesrepublik gebracht. Aber: Zum Komplex Auschwitz gab es auch viele Freisprüche. Diese betrafen zum Beispiel die Vorwürfe der "Beihilfe zum Mord" von vergleichsweise "kleineren Rädchen" in Auschwitz. Der BGH bestätigte 1969 den Freispruch gegen den Auschwitz-Arzt Willi Schatz. Es könne nicht jeder, der "irgendwie" anlässlich des Vernichtungsprogramms tätig geworden sei, für alles Geschehene verantwortlich gemacht worden, so die Haltung damals.

In den folgenden Jahrzehnten wurden sämtliche Ermittlungsverfahren gegen SS-Wachmänner in Auschwitz von den Staatsanwaltschaften eingestellt, auch wenn es um den sogenannten "Rampendienst" ging. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hatte schon 1978 auch gegen Oskar Gröning und 61 andere ehemalige SS-Männer aus Auschwitz ermittelt. 1985 stellt sie die Ermittlungen gegen Gröning wieder ein. Derselbe Sachverhalt wie heute, aber eine andere juristische Bewertung.

Was wurde Oskar Gröning vorgeworfen?

Oskar Gröning, heute 95 Jahre alt, trat 1940 freiwillig in die Waffen-SS ein und war von 1942 bis 1944 in Auschwitz tätig. Konkret ging es im Fall Gröning um die sogenannte "Ungarn-Aktion" 1944 - die massenhafte Deportation ungarischer Juden vor allem nach Auschwitz. Hier wirft das Gericht ihm Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen vor. Eine von Grönings Aufgaben war der sogenannte "Rampendienst". Die Züge mit den deportierten Menschen endeten in Auschwitz auf einem Nebengleis mit einer Holzrampe. Kurz nach dem Aussteigen kam es dort durch die Lagerärzte zur "Selektion" in "arbeitsfähige" und "nicht arbeitsfähige" Personen. Die "nicht arbeitsfähigen" Personen wurden in der Regel direkt ermordet.

Grönings Aufgabe war es - bewaffnet und in Uniform - das Gepäck zu bewachen und Diebstähle zu verhindern. Wörtlich heißt es beim Landgericht Lüneburg: "Durch seine Tätigkeit beim "Rampendienst" half der Angeklagte wissentlich und willentlich dabei, durch die Bewachung des Gepäcks die Arglosigkeit der Deportierten aufrechtzuerhalten und gleichzeitig durch seine uniformierte und bewaffnete Anwesenheit auf der Rampe etwaige Widerstände oder Fluchtgedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen und somit die schnelle und reibungslose Durchführung des eigentlichen Tötungsvorgangs in den Gaskammern zu ermöglichen."

Weitere Aufgabe Grönings war es, den deportierten Menschen abgenommene Geld zu sortieren, zu verwahren und nach Berlin zu bringen. Deswegen wurde er auch "Buchhalter von Auschwitz" genannt.

Was hatte das Landgericht Lüneburg entschieden?

Das Landgericht Lüneburg hatte Gröning am 15. Juli 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt. Er habe das insgesamt auf Tötung von Menschen ausgerichtete System von Auschwitz-Birkenau durch seinen "Rampendienst" und die Verwaltung des Geldes unterstützt. Der "Rampendienst" habe die schnelle und reibungslose "Selektion" gewährleistet und die spätere Tötung der Menschen in den Gaskammern erleichtert und beschleunigt. Das Landgericht bewertet die "Ungarn-Aktion", also den Mord an 300.000 Menschen, dann als "einheitliche Tat". Es spaltet den Massenmord also nicht in zahlreiche Einzeltaten auf. Es knüpft damit an die neue Linie aus dem Fall Demjanjuk an. 

Was hat der BGH jetzt entschieden?

Der Bundesgerichtshof hat das Lüneburger Urteil bestätigt. Oskar Gröning ist also rechtskräftig wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt.

Wie begründet der BGH die Entscheidung?

Der Grundgedanke lautet: Auch die "kleineren Rädchen" haben eine zentrale Rolle beim Völkermord an den Juden gespielt. Voraussetzung auch bei der "Ungarn-Aktion" sei ein "organisierter Tötungsapparat" gewesen, der mit eingespielten Abläufen in der Lage war, in kürzester Zeit Tausende Morde zu begehen. Zu diesem Apparat habe insbesondere das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit dem dortigen Personal gezählt. Wörtlich heißt es: "Nur weil ihnen eine derart strukturierte und organisierte 'industrielle Tötungsmaschine' mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand, waren die nationalsozialistischen Machthaber überhaupt in der Lage, die 'Ungarn-Aktion' anzuordnen."

Gröning sei Teil dieses personellen Apparates und der "Drohkulisse" gewesen. Er sei durch seinen "Rampendienst" in die Organisation der Massentötungen eingebunden gewesen, indem er Widerstand oder Fluchtversuche der ankommenden Menschen verhindern sollte. Außerdem sei er in die Verwertung ihrer Vermögenswerte einbezogen gewesen.

Hat der BGH sich von früheren eigenen Urteilen distanziert?

Nein. Im Urteil von 1969 gegen den Auschwitz-Arzt Willi Schatz sei es um einen anderen Sachverhalt gegangen. Der Beschluss greift die Grundsätze von damals auf und kommt zu dem Schluss, Gröning sei nicht nur "irgendwie" in Auschwitz tätig gewesen. Man habe vielmehr konkrete Handlungen mit Bezug zu den Morden in Auschwitz festgestellt. Eine Analyse der möglichen Unterschiede zwischen den Entscheidungen ist auf die Schnelle noch nicht möglich.

Warum die Höhe der Strafe von vier Jahren?

Auf Mord steht lebenslange Freiheitsstrafe. Bei einer "Beihilfe" zum Mord muss das Gericht laut Gesetz eine mildere Strafe aussprechen. Der Strafrahmen liegt dann zwischen drei und 15 Jahren. Grönings Strafe lautet vier Jahren Haft. Die Argumente dahinter stehen im Lüneburger Urteil, damit hat sich der BGH im Beschluss nicht befasst.

Gegen den Angeklagten sprachen laut Landgericht Lüneburg die große Zahl der Opfer, die Verwirklichung zweier Mordmerkmale und die Folgen der Tat für die Hinterbliebenen der Opfer, die bis heute unter dem Verlust ihrer Angehörigen leiden.

Zugunsten von Gröning hat das Gericht berücksichtigt: sein Geständnis, seine "schonungslose Offenheit" auch im Vergleich zu anderen NS-Tätern. Gröning hatte erklärt, "in Demut und Reue vor den Opfern zu stehen". Er habe sich unter Anspannung sämtlicher geistiger und körperlicher Kräfte dem Verfahren gestellt. Außerdem muss er aus rechtlichen Gründen zumindest die Chance haben, zu Lebzeiten aus der Haft entlassen zu werden.

Kommt Gröning auf jeden Fall ins Gefängnis?

Das hängt davon ab, ob er haftfähig ist. Das Gesetz bietet grundsätzlich die Möglichkeit, dass ein rechtskräftig verurteilter Straftäter nicht ins Gefängnis muss, wenn sein körperlicher Zustand das nicht zulässt. Bei einem sehr alten Menschen wie Gröning wird seine Verteidiger das sicher intensiv prüfen. Zuständig für eine Entscheidung darüber, ob die Strafvollstreckung aufgeschoben wird, ist die Staatsanwaltschaft vor Ort.

Was soll eine Verurteilung 70 Jahre danach bringen?

Mord verjährt nicht, auch Beihilfe zum Mord nicht. Etwaige "Schlussstriche" sieht unser Rechtssystem für solche Fälle nicht vor. Das ist die Leitlinie, die gerade mit Blick auf die NS-Vergangenheit geschaffen wurde. Im Strafrecht geht es auch darum, den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Dafür kann so ein Prozess einen kleinen, aber wichtigen Beitrag leisten. Das haben auch die Vertreter der Opfer im Verfahren immer wieder betont.

Waren die Opfer am Verfahren beteiligt?

Ja. Insgesamt gab es über 60 Nebenkläger, die am Prozess beteiligt waren. Das "Internationale Auschwitz-Komitee" betonte, heute sei ein wichtiger Tag für die Überlebenden in ihrem Verhältnis zu Deutschland. Das Komitee bewertet den Beschluss als wichtiges Signal für künftige Prozesse.

Welche Folgen hat die BGH-Entscheidung für weitere Fälle?

Eine wichtige Rolle bei der Aufklärung von NS-Verbrechen spielt die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart. Sie führt die Vorermittlungen und gibt die Verfahren dann an die Staatsanwaltschaften ab. Sie war auch an den Ermittlungen in den Fällen Demjanjuk und Gröning beteiligt. Behördenleiter Jens Rommel betonte gegenüber der ARD-Rechtsredaktion, man werde die Akten auf vergleichbare Fälle von noch lebenden Personen überprüfen. Es wird ein Wettlauf mit der Zeit bleiben.

Tun die Gerichte und Behörden etwas, um die Vergangenheit aufzuarbeiten?

Ja. An vielen Stellen arbeiten Historiker die Versäumnisse der Vergangenheit und die weit verbreitete "Schlussstrich-Mentalität" auf. BGH-Präsidentin Bettina Limperg hat zum Beispiel das Dokumentationszentrum der Sinti und Roma in Heidelberg besucht und ein Symposium am BGH veranstaltet. 1956 hatte der BGH in einem Urteil gesagt, dass Sinti und Roma nicht aus rassistischen Gründen verfolgt worden seien, und eine Entschädigung verweigert. Für diese Rechtsprechung könne man sich nur schämen, sagte Limperg. Und betonte auch, dass viele NS-Richter nicht von der Nachkriegsjustiz nicht zur Verantwortung gezogen worden seien.

Das Bundesjustizministerium hat zudem mit seinem "Rosenburg-Projekt" die eigene Vergangenheit aufgearbeitet. Die wissenschaftliche Kommission betonte vor allem die hohe Zahl an Mitarbeitern mit NS-Vergangenheit im Ministerium der Nachkriegszeit.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 28. November 2016 um 20:00 Uhr.