Interview zum Umgang mit EHEC "Es muss erst viele Tote geben, bis wir aufwachen"
Er warf den deutschen Gesundheitsbehörden schon 1998 "verheerende Verharmlosung und Gleichgültigkeit" gegenüber EHEC vor. Der ARD-Journalist Klaus Weidmann veröffentlichte in den 90er-Jahren seine Recherchen über das Bakterium und verglich das deutsche EHEC-Management mit dem der USA und Japans. Im tagesschau.de-Interview erklärt er, was Deutschland von anderen Ländern lernen kann.
tagesschau.de: Wäre der aktuelle EHEC-Ausbruch in Deutschland zu verhindern gewesen?
Klaus Weidmann: Zumindest haben die deutschen Gesundheitsbehörden und -politiker diese Seuche über viele Jahre sträflich vernachlässigt. In anderen Ländern, etwa in den USA und in Japan, ist viel ernsthafter mit diesem tödlichen Keim umgegangen und über ihn geforscht worden. Dort hat man schon in den 90er-Jahren viel Personal und Geld in die EHEC-Forschung gesteckt.
tagesschau.de: Was hätten die deutschen Gesundheitsbehörden aus Ihrer Recherche lernen können?
Weidmann: Sie hätten sehr viel frühzeitiger eine Meldepflicht einführen müssen. Dabei gab es bereits in den 90er-Jahren EHEC-Epidemien in Deutschland. Meldepflicht heißt, dass die Bundesländer dazu angehalten werden, einen EHEC-Verdacht in Laboren zu überprüfen und diesen umgehend an das Robert Koch-Institut zu melden. Dann hätte man auch in Deutschland wesentlich mehr über diesen Erreger gewusst. Jetzt tappt man eher im Dunkeln, weiß wirklich wenig über den Erreger und wurde von dieser Seuche überrascht.
"Keine Ahnung, wie mit Epidemien umzugehen ist"
tagesschau.de: Erst Gurken und Tomaten, jetzt gelten Sprossen als mögliche Ursache der Infektion. Was sagt diese Informationspolitik über die deutschen Gesundheitsbehörden aus?
Weidmann: Das zeigt, dass die deutschen Behörden keine Ahnung haben, wie sie mit Epidemien umzugehen haben.
tagesschau.de: Bei dieser EHEC-Epidemie in Deutschland gab es die erste Erkrankung spätestens am 1. Mai. Erst 18 Tage später wurde das Robert Koch-Institut informiert. Wieso dauerte es so lange?
Weidmann: Das ist in der Tat fatal! Wenn auch nur der Verdacht besteht auf EHEC, d.h., wenn es blutigen Durchfall gibt, dann muss das doch sofort untersucht werden! Dann muss sofort eine Eingreiftruppe aus Mikrobiologen und Hygienikern ausrücken, um die Quelle der Infektion festzustellen. Wenn dies nicht geschieht, riskiert man Menschenleben! Das hat wohl mit Föderalismus und Bürokratie zu tun. Aber vor allem hat es mit Kleingeisterei und Provinzialismus zu tun, wenn man glaubt, eine weltweit auftretende Seuche wie EHEC quasi im Alleingang im eigenen Bundesland bekämpfen zu können. Und es hat mit einer Tendenz zur Verharmlosung neuer Krankheiten zu tun. Da wird in Deutschland in bestimmten medizinischen Bereichen nicht genügend Sensibilität aufgebracht. Es muss offensichtlich erst zu vielen Toten kommen, bis wir aufwachen.
tagesschau.de: Sie haben über den Umgang mit EHEC in den USA und Japan recherchiert. Was wird dort anders gemacht als in Deutschland?
Weidmann: In den USA gibt es zentral organisiert das CDC, das Centre for Disease Control in Atlanta. Das ist sozusagen das amerikanische Robert Koch-Institut. Es hat große Befugnisse, entsprechendes Personal und auch Geld zur Verfügung, um dem EHEC-Erreger bereits seit den 80er-Jahren auf die Spur zu kommen. So verfügen die Amerikaner über einen ganz anderen Erfahrungsschatz. Ein Beispiel: Auf der Website des CDC hat man heute 15.300 Treffer zum Suchbegriff "EHEC". Auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts findet man gerade 60 Treffer. Das zeigt, mit welcher Ernsthaftigkeit man sich in den USA mit EHEC beschäftigt und wie stiefmütterlich das in Deutschland gehandhabt wird.
tagesschau.de: Wieso ist man in den USA denn so viel sensibler gegenüber EHEC als in Deutschland?
Weidmann: Wenn man einmal eine Gefahr erkannt hat, geht man in den USA mit sehr viel größerer Entschlusskraft daran, Gefahr vom Volk abzuwenden. Außerdem sind in Deutschland die Kompetenzen fatalerweise auf die einzelnen Bundesländer übertragen worden, die beim Thema Epidemie lange Zeit tun und lassen konnten, was sie wollten.
"Es hat etwas mit Verharmlosung zu tun"
tagesschau.de: In Ihrem Artikel beschreiben Sie einen Fall in den USA: Nachdem sich dort 1997 15 Menschen mit EHEC infizierten und zum Glück keiner starb, zogen die Behörden 25 Millionen Hamburger aus dem Verkehr. Wieso gibt es in Deutschland nicht derartige Versuche, die Bevölkerung zu schützen?
Weidmann: Möglicherweise weil man Schadensersatzansprüche befürchtet. Aber es hat eben auch etwas mit Verharmlosung zu tun. Wenn die Behörden in den USA einen Verdachtsmoment haben, bei dem die Gesundheit der Bevölkerung in Gefahr ist, dann geht es der Industrie mit viel Ärger an den Kragen. Das zeugt von Selbstbewusstsein. In Deutschland fehlt es beim Thema Epidemien offenbar immer noch an Sachkompetenz, Mut und klar definierten Zuständigkeiten.
tagesschau.de: Und was macht Japan anders als Deutschland?
Weidmann: In Japan gibt es seit den 40er-Jahren eine Meldepflicht für EHEC. Deshalb weiß man auch, dass es sich nicht um eine pure Lebensmittelkrankheit handelt, sondern um eine Infektionskrankheit. Japaner wissen schon lange: EHEC ist auch von Mensch zu Mensch und von Tier zu Tier übertragbar. Auch gab es schon vor 15 Jahren Aufklärungskampagnen in Japan. Ich hatte selber Flyer in der Hand, die erklärten, wie man mit Hygiene umgeht. Es gab Videos im Fernsehen, in Schulen und Restaurants. Ich finde es beschämend, dass es so was in Deutschland nicht gibt.
tagesschau.de: Sie warnten schon 1998, dass Deutschland das EHEC-Risiko unterschätzt. Was ist das eigentlich für ein Gefühl, so spät Recht zu bekommen?
Weidmann: Das ist schlimm und ärgerlich! Ich habe nicht gedacht, dass das hier mal soweit kommen könnte. Das macht mich wütend. Es ist ärgerlich, dass so viele Tage vergangen sind, bis man aufwacht, um nachzudenken: Wie wollen wir die Labore ausstatten? Wer ist eigentlich verantwortlich? Wie ist das mit der Meldepflicht? Wer organisiert die Aufklärung der Bevölkerung? Das Meiste wurde in all den Jahren versäumt.
Das Interview führte Alexander Nieschwietz für tagesschau.de