ARD-DeutschlandTrend Juni 2008 Deutschland am Rande der Depression
Der ARD-DeutschlandTrend im Juni zeigt die Bundesbürger im Stimmungstief: Jeder Zweite fürchtet den wirtschaftlichen Abstieg, jeder Dritte hat große Finanzsorgen - und das Vertrauen in die Demokratie schwindet. Union und SPD sinken in der Folge auf ein Rekordtief.
Von Jörg Schönenborn, WDR
Es ist ein ziemlich düsteres Bild, das der ARD-DeutschlandTrend Anfang Juni von der Stimmung der Deutschen zeichnet. Und das hat zunächst einmal sehr wenig zu tun mit dem Zustand der politischen Parteien oder dem Ansehen der Bundesregierung. Nichts drückt mehr auf die Stimmung als ständig steigende Preise, Löhne und Renten, die da nicht mithalten können, und die Sorge um das eigene Portemonnaie. Und die Hoffnung, dass die Politik daran etwas zu ändern vermag, ist äußerst gering.
Optimisten in der Minderheit
Mit 43 Prozent ist fast jeder zweite überzeugt, dass es ihm in zehn Jahren wirtschaftlich schlechter gehen wird als heute. 36 Prozent rechnen mit gleichen Verhältnissen und ganze 18 Prozent glauben für sich an eine bessere wirtschaftliche Situation. Diese letzte Gruppe, die der Optimisten also, umfasst in großer Zahl junge Leute bis 34, teilweise in Ausbildung oder Studium, die natürlich damit rechnen dürfen, dass sich der Einstieg ins Berufsleben auch finanziell auszahlt. Vor allem aber spaltet sich die Gesellschaft bei dieser Frage in Oben und Unten.
Infratest dimap hatte bei diesem DeutschlandTrend die Befragten gebeten, sich selbst einzuordnen in die gesellschaftlichen Schichten. Nur in der "Oberschicht" und der "oberen Mittelschicht" gibt es mehr Optimisten als Pessimisten. 37 Prozent glauben hier an eine bessere wirtschaftliche Zukunft, 21 Prozent befürchten, dass es ihnen schlechter geht. Schon in der "mittleren Mittelschicht" kehrt sich das Verhältnis mit 17 Prozent (besser) zu 39 Prozent (schlechter) um. In der "Unterschicht" und der "unteren Mittelschicht" glauben ganze 13 Prozent an den Aufstieg, 55 Prozent sehen sich als künftige Absteiger.
"Die Linke" erreicht Allzeithoch
Dieses Phänomen steht im direkten Zusammenhang mit der politischen Stimmungslage, die sich in den letzten Monaten kontinuierlich gegen die sogenannten "Volksparteien" gedreht hat. In der Sonntagsfrage verliert die Union drei Punkte gegenüber dem Vormonat und sackt auf 34 Prozent ab. Und die SPD gibt ebenfalls drei Punkte ab und liegt nur noch bei 24 Prozent. Damit sind Union und SPD zusammengenommen so schwach wie nie, sie kommen gerade noch auf 58 Prozent der Wählerstimmen. Im Gegenzug profitieren die "kleinen" Parteien: Die Linke erreicht mit 14 Prozent (+2) ihr Allzeithoch im DeutschlandTrend, die FDP macht einen Sprung auf 13 Prozent (+3) und die Grünen gewinnen auf 12 Prozent (+2). Wenn dieser Trend weitergeht, müssen wir die Begriffe "Volksparteien" und "kleine Parteien" ernsthaft überdenken.
Sorgen der Bürger kosten Koalitionsparteien Stimmen
Die genaue Auswertung der Umfragen seit der Bundestagswahl 2005 zeigt den Zusammenhang zwischen den Verlusten der Regierungsparteien und den finanziellen Alltagssorgen der Bürger. Besonders groß ist der Anteil derer, die einen wirtschaftlichen Abstieg befürchten, unter ehemaligen Unions-Wählern, die im Moment angeben, gar nicht wählen zu wollen, und unter denen, die von der SPD zur Partei "Die Linke" gewandert sind. Nicht zufällig sind das genau die beiden Wählergruppen, bei denen die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung mit 95 Prozent beziehungsweise 96 Prozent am höchsten ist.
Aber die Missstimmung beschränkt sich nicht auf diese Gruppen. Sie ist hier nur besonders ausgeprägt. Weiterhin beklagen 78 Prozent der Befragten, dass sie persönlich nichts vom Aufschwung spüren. Und als wichtigste Gründe nennen sie, dass ihr Einkommen oder ihre Rente nicht oder zu wenig steigt, während die Preise das umso deutlicher tun.
Jeder Dritte mit großen finanziellen Sorgen
Dieses Thema, steigende Preise, beschäftigt die Bundesbürger gegenwärtig mehr als alle anderen gesellschaftlichen Entwicklungen. 86 Prozent geben an, die steigenden Preise bereiteten ihnen "große Sorge". Es folgen die Armut in Deutschland mit 83 Prozent, mit etwas Abstand der Klimawandel mit 76 Prozent, Korruption (73 Prozent) und Datenmissbrauch (72 Prozent). Und dann folgt eine Zahl, die klein erscheint und doch ein Alarmzeichen ist: 32 Prozent sagen, ihre persönliche finanzielle Situation mache ihnen "große Sorge"! - Diesen Satz muss man zweimal lesen, um seine Tragweite zu verstehen: Jeder Dritte gibt in einer Telefonumfrage offen zu, dass seine Finanzlage prekär ist!
Es gibt zwar mit der Partei "Die Linke" eine politische Kraft, die genau diese Probleme anspricht und damit Wähler bindet. Erkennbar ist auch, dass die FDP für ehemalige Unions-Wähler und die Grünen für ehemalige SPD-Wähler im Moment die bessere Alternative sind. Trotzdem überrascht die Gleichgültigkeit gegenüber den Verhältnissen in Berlin. Obwohl nur gut jeder Vierte (27 Prozent) noch gute Noten für die Arbeit der Bundesregierung verteilt, möchten zwei Drittel (65 Prozent), dass Union und SPD durchhalten bis zur nächsten Wahl. Der Vorschlag des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, die Union solle ein Misstrauensvotum anstreben, um den Bundestag auflösen zu lassen, hat nur im Lager der Partei "Die Linke" erkennbare Unterstützung.
Beck wäre bei direkter Kanzlerwahl chancenlos
Überschaubar sind aus Sicht der Wähler auch die Chancen der SPD, nach der nächsten Wahl den Kanzler zu stellen. Kurt Beck schneidet im direkten Vergleich mit Angela Merkel erneut noch schlechter ab - 12 Prozent (-2) würden ihn wählen, 70 Prozent (+2) hingegen Merkel. Aber auch Außenminister Steinmeier, über dessen Kandidatur in den letzten Tagen viel spekuliert wurde, wäre trotz leichter Verbesserung abgeschlagen: für ihn würden 30 Prozent (+4) stimmen, für Merkel 56 Prozent (+1).
In jedem Fall ist Steinmeier sowohl aus Sicht der SPD-Wähler als auch für die übrigen Parteianhänger der am häufigsten gewünschte und aussichtsreichste Kandidat der Partei. 38 Prozent halten ihn für den "besten Kanzlerkandidaten" - es folgen: Klaus Wowereit (17 Prozent), Peer Steinbrück (14 Prozent), Kurt Beck (7 Prozent), Gesine Schwan (6 Prozent) und - in diesem Feld als Schlusslicht - Andrea Nahles (5 Prozent).
Vertrauensverlust in das demokratische System
Aber wichtiger als solche Personaldebatten erscheint bei genauer Betrachtung der Ergebnisse die Frage, wie Parteien insgesamt den Vertrauensverlust in das demokratische System und seine Institutionen bremsen und diesen Trend umkehren wollen. Nur noch 48 Prozent sagen, sie seien zufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie bei uns funktioniert - noch mal etwas weniger als 2006 (49 Prozent) und deutlich weniger als 2005 (60 Prozent). Die Mehrheit sieht die Lage der Demokratie kritisch - eine klare Botschaft. Dabei ist das Vertrauen in die Bundesregierung als Institution mit 34 Prozent und in die Gewerkschaften mit 32 Prozent relativ gesehen noch recht hoch. Den Unternehmen der Wirtschaft vertrauen noch 18 Prozent, den politischen Parteien 17 Prozent.
Diese Zahlen sind keine Laune, kein kurzfristiger Trend, sondern sie stabilisieren sich seit zwei Jahren. Dass bei den letzten neun Landtagswahlen in Deutschland und bei der letzten Bundestagswahl die Beteiligung jeweils so niedrig war wie nie zuvor im jeweiligen Wahlgebiet, kann vor diesem Hintergrund niemanden mehr überraschen.
Grundgesamtheit: Wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland ab 18 Jahren
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews
Fallzahl: 1000 Befragte (700 West / 300 Ost)
Sonntagsfrage: 1500 Befragte
BayernTrend: 1000 Befragte
Erhebungszeitraum: 02. bis 04. Mai 2008
Sonntagsfrage: 02. bis 04. Mai 2008
Fehlertoleranz: 1,4 bis 3,1 Prozentpunkte