Das Gebäude des Auswärtigen Amtes.
Analyse

Lage in Afghanistan Warum handelte Berlin so spät?

Stand: 16.08.2021 17:14 Uhr

Der Vormarsch der Taliban kam schneller, als von der Bundesregierung erwartet. Auf frühe Warnungen reagierte das Auswärtige Amt nicht, zeigen Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios.

Eine Analyse von Michael Götschenberg, ARD-Hauptstadtstudio und Kai Küstner, ARD Berlin

Es sollte wohl so klingen, als habe man im Außenministerium alles unter Kontrolle: Am vergangenen Freitag war es bereits fünf Tage her, dass die Taliban die nordafghanische Schlüsselstadt Kundus eingenommen und ihren Belagerungsring um die Hauptstadt immer enger gezogen hatten.

Die USA hatten schon beschlossen, 3000 Soldaten nach Kabul zu schicken, um das Ausfliegen ihres Personals abzusichern. Dann trat Heiko Maas an die Mikrofone. "Wir haben uns seit Wochen auf diese Situation vorbereitet", mit diesen Worten verkündete der deutsche Außenminister das Abschmelzen des Botschaftspersonals in Kabul auf eine Rumpfmannschaft.

Erhebliche Zweifel an wochenlanger Vorbereitung

An der Aussage, dass man seit Wochen vorbereitet gewesen sei, gibt es erhebliche Zweifel. Auch im Ministerium selbst. Denn schon seit Wochen hatte die deutsche Botschaft in Kabul vor einer Gefährdung ihres Personals gewarnt: Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios schrieb der stellvertretende deutsche Botschafter Hendrik van Thiel in seinem Lagebericht am Freitag, "dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen" worden sei. Darüber hinaus betonte der Diplomat: "Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schief gehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen." Vor Ort fühlte man sich offenbar alleine gelassen, die Warnungen der Botschaft scheinen folgenlos geblieben zu sein.

Auch hoffte man im Auswärtigen Amt offenbar noch am Freitag, dass die Taliban gar keinen Vorstoß auf Kabul wagen würden - weil die Islamisten kein Interesse an einer blutigen Schlacht um die Hauptstadt haben könnten.

So jedenfalls stellte es das Außenministerium nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios Parlamentariern gegenüber dar. Christopher Burger, Sprecher des Auswärtigen Amts, erklärte in der Regierungspressekonferenz heute zu den Vorwürfen lediglich, alle Entscheidungen des Krisenstabs im Außenministerium würden "in engster Abstimmung mit der Botschaft" getroffen.

Hätte das Auswärtige Amt früher reagieren müssen?

Der verteidigungspolitische Sprecher der CDU-CSU-Bundestagsfraktion, Henning Otte, sagte dem ARD-Hauptstadtstudio, das Auswärtige Amt hätte auf die eindeutigen Hinweise aus der Deutschen Botschaft früher reagieren "können und müssen": "Offensichtlich hat man diese Informationen falsch bewertet oder nicht bewertet. Es wäre besser gewesen, wir hätten früher reagieren, die Luftbrücke aufstellen und die Menschen retten können."

Da ist es wenig tröstlich, dass innerhalb der Bundesregierung das Außenministerium mit seiner überoptimistischen Einschätzung der Lage nicht allein dastand. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios aus Sicherheitskreisen hatte auch der Bundesnachrichtendienst eine derart dynamische Entwicklung der Lage nicht prognostiziert - wie auch die ausländischen Partnerdienste des BND inklusive der US-amerikanischen nicht. Die US-Geheimdienste hatten mit einer endgültigen Machtübernahme der Taliban frühestens nach 30 bis 90 Tagen gerechnet.

Gleichzeitig dürfte es im Auswärtigen Amt ein Interesse gegeben haben, die Lage nicht schlecht reden zu wollen, weil man fürchtete, den Taliban damit noch mehr Auftrieb zu verleihen und die afghanische Regierung und Armee zu demoralisieren.

Das Auswärtiges Amt in Berlin

Das Auswärtige Amt fürchtete sich davor, die Lage nicht schlecht zu reden.

Bundeswehr offenbar nicht vorbereitet

Doch nicht nur das Agieren des Auswärtigen Amts wirft Fragen auf. Auch die Bundeswehr war offensichtlich nicht vorbereitet, eine Evakuierung kurzfristig gewährleisten zu können. Erst Mitte der vergangenen Woche wurde überhaupt zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Verteidigungsministerium die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen Deutschland A400M-Transportflugzeuge nach Kabul entsenden könnte, erfuhr das ARD-Hauptstadtstudio aus Sicherheitskreisen.

Das Verteidigungsministerium schickte nun Fallschirmjäger, die die Evakuierung auf dem Flughafen Kabul sichern sollen. In gewisser Hinsicht schafft man damit aber auch ein neues Problem, denn die Soldaten müssen auch wieder ausgeflogen werden.

Wie lange können Flugzeuge noch in Kabul landen?

Außerdem ist fraglich, ob und wie lange noch die Maschinen der Bundeswehr in Kabul überhaupt landen können. Auf dem Flughafen spielten sich heute und gestern chaotische Szenen ab: Hunderte Afghanen hofften, das Land verlassen zu können und versuchten mitunter, die Maschinen auf dem Rollfeld zu stürmen.Die Amerikaner sichern gemeinsam mit dem türkischen Militär den Flughafen ab, die Taliban kontrollieren jedoch, wer hineinkommt.

In Berlin zeigen Auswärtiges Amt und Verteidigungsministerium unterdessen bei der Frage, wer die Verantwortung für das Krisenmanagement trägt, mit dem Finger aufeinander. Zunächst jedoch geht es darum, diejenigen, die noch vor Ort sind, in Sicherheit zu bringen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 16. August 2021 um 17:00 Uhr.