Blick auf die Roben der Richter des Ersten Senats sowie ein Richterbarett beim Bundesverfassungsgericht
FAQ

Handelsabkommen CETA vor Gericht Ein ungewöhnliches Verfahren

Stand: 12.10.2016 03:47 Uhr

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über mehrere Eilanträge gegen das Handelsabkommen CETA. Kann Karlsruhe den Vertrag tatsächlich noch stoppen? Wer sind die Kläger? Und was ist das Besondere an der Verhandlung?

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Was ist das kurzfristige Ziel der Kläger?

Die Kläger möchten, dass das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung in einer einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt, dem Abschluss des Handelsabkommens CETA im Rat der EU zuzustimmen. Heute wird verhandelt. Am Donnerstag soll entschieden werden, ob es eine solche einstweilige Anordnung geben wird oder nicht. Das abschließende Urteil in der Hauptsache kommt dann erst Monate oder gar Jahre später.

Was ist CETA?

CETA ist ein Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada. Die Abkürzung steht für "Comprehensive Economic and Trade Agreement" (übersetzt: "Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen"). Der Text des Abkommens hat ohne Anhänge 491 Seiten. Das Ziel lautet: Unternehmen aus Kanada und der EU sollen gegenseitig einen verbesserten Marktzugang erhalten, zum Beispiel für Industriegüter, Agrarprodukte und Dienstleistungen und bei öffentlichen Aufträgen. Durch CETA sollen Handelshemmnisse abgebaut werden, zum Beispiel sollen 99 Prozent der Zölle wegfallen. Das alles soll Investitionen von Unternehmen erleichtern. Die EU und Kanada handeln jährlich mit Waren im Wert von etwa 60 Milliarden Euro.

Die Diskussion um CETA steht in Zusammenhang mit dem geplanten Handelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Bundesregierung und EU sehen CETA als Vorbild für künftige Handelsabkommen. Deshalb geht es auch bei den Rechtsfragen zu CETA um wichtige Weichenstellungen.

Wann soll CETA beschlossen werden?

Der Rat der EU hat vor, am 18. Oktober den Abschluss von CETA zu beschließen. Ende Oktober ist dann die Unterzeichnung mit Kanada vorgesehen. Lange war umstritten, ob die EU das Abkommen alleine - ohne extra Zustimmung der Mitgliedsstaaten - abschließen darf. Davon war die EU-Kommission zunächst ausgegangen, ist davon nach Protesten aber wieder abgewichen. Über diese Frage wird der Europäische Gerichtshof noch entscheiden.

Nach aktuellem Stand soll CETA aber als sogenanntes "gemischtes Abkommen" behandelt werden. Vertragsparteien wären dann die EU, ihre Mitgliedsstaaten und Kanada. Das ist eine wichtige Weichenstellung, denn: Die Mitgliedsstaaten müssten CETA ratifizieren, in Deutschland müsste also das Parlament zustimmen.

Was bedeutet die geplante "vorläufige Anwendung" von CETA?

Im Beschlussvorschlag der EU-Kommission ist vorgesehen, dass CETA bereits vor der abschließenden Ratifizierung in den Mitgliedsstaaten "vorläufig anwendbar" ist. Das ist bei internationalen Verträgen im Prinzip nicht ungewöhnlich. Die Kläger kritisieren aber, dass der Bundestag als Volksvertretung erst dann eingebunden wird, wenn CETA schon vorläufig in Kraft ist, und nicht schon vorher. Die Bundesregierung verweist darauf, dass die vorläufige Anwendung nicht den gesamten Vertrag umfasse. Vorläufig umgesetzt werde zum Beispiel der Abbau von Zöllen, nach dem Plan der EU aber nicht das umstrittene Investitionsgericht. Außerdem soll das Europaparlament der vorläufigen Anwendung zustimmen.

Wer sind die Kläger?

Die Nichtregierungsorganisationen "Mehr Demokratie", "Foodwatch" und "campact" haben rund 125.000 Kläger (die genaue Bezeichnung lautet: "Beschwerdeführer") hinter sich versammelt. Eine Musiklehrerin hat mit Hilfe einer Online-Kampagne noch einmal 68.000 Kläger zusammengebracht. Außerdem klagen ein Europaabgeordneter der ÖDP und die Linksfraktion im Bundestag.

Spielt die Anzahl der Kläger eine Rolle?

Juristisch nicht. Entscheidend sind allein die Argumente.

Was hat das alles mit dem einzelnen Bürger zu tun?

Zunächst ist der Bürger natürlich vom Handel und seinen Auswirkungen betroffen. Aber auch juristisch spielt er eine ganz zentrale Rolle, und zwar als Wählerin und Wähler. Denn im Kern geht es bei den Klagen darum: Besteht eine - wenn auch nur indirekte - Verbindung zwischen der Wählerstimme des Einzelnen und dem, was auf EU-Ebene und zwischen den Staaten beschlossen wird? Oder ist dieses Band "von unten nach oben" komplett abgeschnitten? Das sind Grundfragen einer demokratischen Gesellschaft.

Das Bundesverfassungsgericht gestattet einzelnen Bürgerinnen und Bürgern seit dem Maastricht-Urteil ein Klagerecht mit dem Argument, ihr Wahlrecht könnte durch EU-Maßnahmen ausgehöhlt werden. Das ist eine sehr weitgehende Auslegung, die solche Klagen von Bürgern gegen CETA ermöglicht. Ein Klagerecht ist natürlich nicht mit dem Erfolg der Klage gleichzusetzen.

Worum geht es bei den Klagen gegen CETA - und worum nicht?

CETA ist ein politisch hoch umstrittenes Projekt. Befürworter verweisen auf die wirtschaftlichen Vorteile für Unternehmen und Bürger. Kritiker befürchten Einschnitte bei Verbraucher- und Umweltschutz sowie eine einseitige Bevorzugung von Unternehmen. Die politischen Argumente pro und contra CETA muss man aber von den juristischen Angriffspunkten unterscheiden. Nicht alles, was politisch kritisiert wird, schlägt automatisch als juristisches Argument in Karlsruhe durch. Entscheidend für die Klagen ist, ob ein Verstoß gegen das Grundgesetz vorliegt oder nicht.

Kann Karlsruhe überhaupt einen internationalen Vertrag prüfen?

Im Ergebnis schon, aber die Hürden sind hoch. Als Ausgangspunkt ist wichtig, dass der Angriffspunkt hier nicht wie in anderen Verfahren ein nationales Gesetz ist, bei dem der klagende Bürger dann eine Verletzung seiner Grundrechte rügt (zum Beispiel Artikel 14 des Grundgesetzes zum Eigentumsschutz, Artikel 12 zur Berufsfreiheit oder Artikel 3 zur Gleichheit vor dem Gesetz). Bei CETA geht es um einen internationalen EU-Vertrag. Dafür wäre grundsätzlich der Europäische Gerichtshof zuständig.

Karlsruhe hat sich aber stets eine Art "letztes Wort" für die Frage vorbehalten, ob die EU sich außerhalb ihrer Befugnisse bewegt, und ob der Kernbereich der Werte des Grundgesetzes angetastet wird. Dazu hat das Gericht inzwischen in mehreren Urteilen (Maastricht, Vertrag von Lissabon, Rettungsschirm ESM, EZB) Maßstäbe entwickelt. In diese Reihe von Urteilen fügt sich das CETA-Verfahren nun ein. Konkret prüft das Gericht:

- Handelt die EU in Bereichen, die über ihre Zuständigkeit hinausgehen? Der Fachbegriff für eine solche Situation lautet lateinisch "ultra vires".
- Ist der Kernbereich des Grundgesetzes verletzt? Das Gericht nennt diesen Punkt die Beeinträchtigung der "Verfassungsidentität". Es geht um Grundwerte wie Rechtsstaat und Demokratie.

Das sind durchaus hohe juristische Hürden, die bislang selten übersprungen wurden.

Was sind vor diesem Hintergrund die juristischen Knackpunkte bei CETA?

Aus der Verhandlungsgliederung lässt sich ablesen, dass das Gericht sich besonders mit zwei wichtigen Bausteinen des CETA-Vertrages beschäftigen wird:

- dem sogenannten Investitionsgericht und
- dem sogenannten "Gemischten CETA-Ausschuss", auch "Gemeinsamer CETA-Ausschuss" genannt.

Warum ist das Investitionsgericht umstritten?

CETA sieht ein Investitionsgericht vor. Es soll Streitigkeiten zwischen Unternehmen und den beteiligten Staaten entscheiden, wenn sich Unternehmen bei ihren Investitionen von den anderen Staaten benachteiligt sehen. Kanadische Investoren könnten vor diesem Gericht zum Beispiel EU-Mitgliedsstaaten auf Schadensersatz verklagen. Investitionsschutz ist im internationalen Handel im Prinzip nichts Neues. Die Kläger sagen aber über das konkrete CETA-Gericht: Dies sei eine Paralleljustiz, die das Grundgesetz nicht zulasse. Außerdem würden mit dem Investitionsgericht rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Der deutsche Gesetzgeber könnte zudem aus Sorge vor hohen Schadensersatzklagen eher Regeln zugunsten von Unternehmen treffen. Insgesamt verletze dies die Verfassungsidentität.

Die Bundesregierung verweist darauf, dass die Regeln zum Investitionsgericht zuletzt noch stark verbessert worden seien und kein Verstoß gegen das Grundgesetz vorliege.

Warum ist der "Gemischte CETA-Ausschuss" umstritten?

Der „Gemischte CETA-Ausschuss“ ist als Gremium das zentrale Steuerungsorgan von CETA. Der juristische Angriffspunkt lautet: Er kann das Abkommen weiterentwickeln, ändern und interpretieren. In ihm sitzen Vertreter aus Kanada und der EU, aber nicht zwingend aus den EU-Mitgliedsstaaten. Der deutsche Gesetzgeber, und damit der deutsche Wähler, habe also keinen Einfluss auf Veränderungen bei CETA, sagen die Kläger. Sie fürchten, dass CETA durch den Ausschuss eine Art „Eigenleben“ entwickelt, das sich vom ursprünglich beschlossenen Inhalt des Abkommens entfernt.

Wenn die EU ihre Befugnisse aber an externe Gremien immer weiterreicht, dann kommt besagte „ultra vires“-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts ins Spiel, die erhebliche Kompetenzüberschreitungen der EU in den Blick nimmt. Die Bundesregierung hält dagegen, dass eine Rückbindung des Ausschusses an die Mitgliedsstaaten gesichert sei.

Welche weiteren Punkte sind umstritten?

Die Kläger sehen durch die geplante vorläufige Anwendung von CETA das Demokratieprinzip verletzt, weil der Bundestag zu spät beteiligt würde. Außerdem sei das im EU-Vertrag geregelte sogenannte Vorsorgeprinzip nicht genügend berücksichtigt. Das Vorsorgeprinzip ermöglicht Regelungen zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit und Umwelt, etwa wenn es um die Sicherheit von Produkten geht. Schutzmaßnahmen sind danach zulässig, auch wenn die Schädlichkeit noch nicht abschließend wissenschaftlich bewiesen ist. Gegenpol ist das in den USA und Kanada geltende Wissenschaftsprinzip. Aus Sicht der Bundesregierung ist das Vorsorgeprinzip bei CETA ausreichend berücksichtigt.

Welche Rolle kann die kürzlich beschlossene Zusatzerklärung zu CETA spielen?

In einer kürzlich beschlossenen Zusatzerklärung bekennen sich EU und Kanada zu den Werten, die nach Ansicht der Kritiker bei CETA zu kurz kommen, etwa Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz. Außerdem soll sie ungenaue Begriffe klarstellen. Es ist aber umstritten, welchen juristischen Wert die Erklärung hat, also ob sie tatsächlich verbindlich ist.

Trifft Karlsruhe jetzt eine abschließende Entscheidung darüber, ob CETA rechtlich in Ordnung ist oder nicht?

Nein. Das ist ganz wichtig für das Verständnis der beiden Tage in Karlsruhe. Es geht aktuell allein um den Antrag der Kläger auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Später wird es noch das Verfahren in der Hauptsache geben, in dem das Gericht dann endgültig entscheidet, ob die deutsche Zustimmung zu CETA gegen das Grundgesetz verstößt. Bis dahin kann aber durchaus ein Jahr oder länger vergehen.

Für den Antrag auf einstweilige Anordnung hat das Gericht ein spezielles Prüfprogramm:

Schritt 1: Sind die Klagen "nicht von vornherein unzulässig", und "nicht offensichtlich unbegründet"? Das Gericht prüft dabei grob, ob an den juristischen Argumenten möglicherweise "etwas dran" ist, ohne eine abschließende Bewertung abzugeben. Wenn ja, kommt

Schritt 2: Die Folgenabwägung. Die Leitfrage dabei lautet vereinfacht gesagt: Kann sich das Gericht die Zeit bis zum endgültigen Urteil nehmen, oder treten bis dahin so schwere Nachteile ein, dass man bis dahin ein vorläufiges "Stopp" setzen muss? Das Gericht vergleicht dabei zwei Situationen und fragt: Was ist schlimmer?

- Wenn Karlsruhe CETA nicht vorläufig stoppt, im endgültigen Urteil aber rauskommt: Die Mitwirkung bei CETA ist verfassungswidrig.

- Wenn Karlsruhe CETA vorläufig stoppt, im endgültigen Urteil aber rauskommt: Die Mitwirkung bei CETA ist nicht verfassungswidrig.

Worauf könnte es bei dieser Folgenabwägung konkret ankommen?

Bei der Folgenabwägung wird die geplante "vorläufige Anwendung" von CETA relevant. Dem Gericht scheint die Frage wichtig zu sein: Werden durch die geplante vorläufige Anwendung von CETA Fakten geschaffen, aus denen Deutschland nicht mehr herauskommt? Denn laut Verhandlungsgliederung wollen die Richter genau wissen:

- Welche Bereiche von CETA sollen vorläufig angewandt werden? Auch die umstrittenen wie das Investitionsgericht?

- Könnte Deutschland zur Not die „vorläufige Anwendung“ wieder beenden und aus CETA aussteigen?

Vor allem der zweite Punkt kann entscheidend für die Frage sein, ob das Gericht die vorläufige Anwendung von CETA auch für Deutschland bis zum abschließenden Urteil laufen lässt, oder ob es bis dahin ein "Stoppschild" setzen muss.

Szenario 1: Karlsruhe stoppt CETA nicht vorläufig - wäre es damit in trockenen Tüchern?

Nein. Vor allem wenn das Gericht den Antrag nur im Rahmen der Folgenabwägung ablehnt, also weil noch keine abschließenden Fakten geschaffen werden, wird es die Klagen im Hauptsacheverfahren intensiv prüfen. Das Ergebnis ist offen. Das Gericht könnte in die Eilentscheidung ein paar "rote Linien" oder rechtliche Vorgaben schreiben, die man bis zum endgültigen Inkrafttreten von CETA noch umsetzen könnte, wollte man auf Nummer sicher gehen.    

Szenario 2: Karlsruhe stoppt CETA vorläufig - wäre es das endgültige Aus für CETA?

Deutschland dürfte dem Vertrag in der jetzigen Form im Rat der EU dann nicht zustimmen. Geht man mit der Bundesregierung davon aus, dass der CETA-Beschluss auf EU-Ebene faktisch einstimmig erfolgen muss, könnte er nicht unterzeichnet werden. Die Vertragsparteien müssten dann warten, wie das endgültige Karlsruher Urteil ausgeht. Oder sie könnten einzelne Punkte überarbeiten. Ob dazu der politische Wille bestünde, ist eine andere Frage.

Was ist anders als sonst am Bundesverfassungsgericht?

Erstens: Vor der Entscheidung über eine "einstweilige Anordnung" wird äußerst selten eine mündliche Verhandlung angesetzt. Üblicherweise wird der Beschluss schriftlich getroffen und dann veröffentlicht. Warum das Gericht die Verhandlung anberaumt hat, darüber kann man nur mutmaßen. Vielleicht können die Richter ihren Informationsbedarf mit Nachfragen im Gerichtssaal besser decken als durch reine Schriftsätze? Vielleicht haben sie auch Sorge, dass jemand Widerspruch gegen den Beschluss einlegt, über den laut Gesetz mündlich verhandelt werden müsste. Dann wäre die Zeit knapp geworden.

Zweitens: Normalerweise liegen zwischen Verhandlung und Urteil in Karlsruhe mehrere Monate. Diesmal planen die Richter das Urteil schon am nächsten Morgen. Die Entscheidungen zum Abschluss von CETA auf EU-Ebene stehen ja noch im Oktober an. In Karlsruhe wird es wohl eine "Nachtschicht" geben.