Bundestag gedenkt NS-Opfern "Ich wusste nicht, was eine Jüdin ist"
Als Hitler vor genau 80 Jahren zum Reichskanzler ernannt wurde, wusste Inge Deutschkron nicht, "was eine Jüdin ist". Doch von da an habe sie einer Minderheit angehört. Den Holocaust überlebte die heute 90-Jährige im Untergrund. Im Bundestag erinnerte die deutsch-israelische Autorin an die Opfer der Nazi-Diktatur.
In einer Gedenkstunde hat der Bundestag an die Millionen Opfer des Nationalsozialismus erinnert. In ihrer Gastrede schilderte die deutsch-israelische Schriftstellerin Inge Deutschkron den bewegten Zuhörern ihre Erinnerungen an die Machtübernahme der Nazis, die sie als Zehnjährige erlebt hatte.
Von da an habe sie einer Minderheit in Deutschland angehört, sagte die heute 90-Jährige. Sie habe damals nicht gewusst, "was eine Jüdin ist", sagte sie in ihrem Vortrag. Als sie den "gelben Stern" habe tragen müssen, habe die Mehrheit der Deutschen weggeschaut. Der Stern habe zu einer "diskriminierenden Isolation" geführt, berichtete sie weiter.
"Dann waren alle weg, meine Familie, meine Freunde"
Als junge Frau habe sie mit ansehen müssen, wie in Berlin die Juden schließlich systematisch aus ihren Häusern geholt und verschleppt wurden. Die wenigen Passanten auf der Straße hätten nichts sehen und nichts wissen wollen. "Dann waren sie alle weg, meine Familie, meine Freunde", berichtete Deutschkron. Sie selbst überlebte, weil sie sich im Untergrund versteckte.
Als ihr im Nachkriegsdeutschland gesagt wurde, sie solle vergessen und sie müsse vergeben können, sei sie wie besessen gewesen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe, sagte Deutschkron im Plenarsaal des Bundestags, wo Bundespräsident Joachim Gauck, Bundesregierung und Abgeordnete, Vertreter der Kirchen, religiöser und gesellschaftlicher Organisationen und viele junge Besucher ihre Rede gebannt verfolgten.
Jahrelang hielt sich Inge Deutschkron mit ihrer Mutter in Berlin versteckt, um den Deportationen und dem Holocaust zu entgehen. Später studierte und arbeitete sie in England und ließ sich 1956 als Journalistin in Bonn nieder. Von 1972 bis zu ihrer Pensionierung 1987 war Deutschkron in Tel Aviv tätig. Seit 2001 lebt sie wieder in Berlin. Als Zeitzeugin engagiert sich Deutschkron besonders in der Vermittlung ihrer Erfahrungen an Schüler, die sie unter anderem in ihrem Buch "Ich trug den gelben Stern" verarbeitete.
Aufruf zur Verteidigung der Demokratie
Zuvor hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert dazu aufgerufen, das Gedenken an das "dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte" wach zu halten und die Demokratie zu verteidigen. Dass dies auch heute noch notwendig sei, zeigten "in jüngster Zeit die unglaubliche, entsetzliche NSU-Mordserie und antisemitisch motivierte Gewalttaten", sagte er im voll besetzten Plenum des Bundestages im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel .
"Wir gedenken heute aller Opfer der verbrecherischen Ideologie des Nationalsozialismus", betonte Lammert weiter. Die Machtübernahme durch Adolf Hitler heute vor 80 Jahren "war kein Betriebsunfall". Dies sei weder zufällig noch zwangsläufig geschehen. Mit der Gedenkstunde bekunde das Parlament auch seinen Willen, "alles zu tun, damit eine ähnliche menschengemachte, staatlich organisierte Katastrophe sich nie mehr ereignen kann."
Seit Herzog ein Tag des Gedenkens
Der Gedenktag erinnert an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee. Der Jahrestag wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" erklärt. Seitdem findet alljährlich im Bundestag eine Gedenkstunde mit Zeitzeugen als Gastrednern statt.
Da der 27. Januar in diesem Jahr auf einen Sonntag fiel, wurde die Gedenkstunde auf den 30. Januar verlegt. Das geschah auch deshalb, weil auf den Tag genau vor 80 Jahren Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war und der Bundestag darum bewusst an die Opfer seiner Diktatur erinnern wollte.
Ausstellung "Der Weg in die Diktatur"
Außerdem eröffnete Bundeskanzlerin Merkel im Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" die Ausstellung "Berlin 1933 - Der Weg in die Diktatur". Diese Dokumentation zeichnet das Ende der Weimarer Republik und die Wochen nach der Regierungsübernahme durch Hitler nach.
"Der Aufstieg des Nationalsozialismus wurde möglich, weil die Eliten daran mitwirkten und weil eine breite Mehrheit einfach wegsah", sagte Merkel. In der Folge habe die Öffentlichkeit allen Verfolgten "mit einer erschütternden Gleichgültigkeit" gegenüber gestanden. Dies dürfe sich nie wiederholen.