16 Jahre Kanzlerin Machtmensch Merkel
16 Jahre Kanzlerin - das geht nicht ohne ausgeprägten Machtinstinkt. Doch Angela Merkels Macht kam nie dominant daher. Unterschätzen durfte man sie aber nie. Von Tina Hassel.
16 Jahre Kanzlerin - das geht nicht ohne ausgeprägten Machtinstinkt. Doch Angela Merkels Macht kam nie dominant daher. Unterschätzen durfte man sie aber nie.
Angela Merkel gleicht einer Sphinx. Persönliches hält sie gut verborgen. Wer ist diese Frau? Auch nach fast 16 Jahren Kanzlerschaft gibt es drauf keine einfache Antwort. Es fällt leichter zu sagen, wer Angela Merkel nicht ist: nämlich weder eine gefühlskalte Physikerin noch ein "Gutmensch" aus einem Templiner Pfarrhaus. Und auch nicht die männermeuchelnde Eiskönigin, deren Aufstieg angeblich gepflastert sein soll von unterlegenen männlichen Konkurrenten. Die haben ihre Niederlagen schon selbst herbeigeführt.
Für einen "House of Cards"-Vergleich taugt Merkel nicht. Lust auf Rache scheint ihr fremd. Auch Geld und Glamour locken sie offenbar nicht. Selbst ihre politischen Feinde würden nicht behaupten, sie sei korrumpierbar. Wer im Supermarkt in Berlin-Mitte den Einkaufswagen eigenhändig mit Wein und Klopapier füllt, ist bodenständig. Merkel ist der absolute Gegenentwurf zu Populisten jeder Art.
Unterschätzen durfte man Merkel nie. Das haben nicht nur die Herren vom sogenannten Andenpakt zu spüren bekommen, sondern auch ihre schwierigen internationalen Gegenspieler: Silvio Berlusconi, Jaroslaw Kaczynski, Viktor Orban und Donald Trump - sie alle kamen und gingen, Merkel blieb.
Viele kamen und gingen - und jetzt geht auch Merkel. Nur die Queen bleibt. Das Foto zeigt die Feier zum 75. Jahrestag des D-Day am 5. Juni 2019 in Portsmouth.
Gespür für politische Stimmungen
Zur mächtigsten Frau Europas wird man nicht ohne einen ausgeprägten Machtinstinkt. Aber Merkels Macht kommt nicht breitbeinig daher, nicht gockelnd und dominant. Auch markige Ansagen, Alphatier-Gehabe oder flammende Reden gehören nicht zu ihren Waffen. Verlässlich, präzise, unfassbar fleißig und belesen weiß Merkel die Dinge meist vom Ende her zu denken. Ihre Detailkenntnis bis zum letzten Komma trieb viele zur Weißglut, die mit ihr verhandeln mussten.
Zu Merkels Erfolgsrezepten gehört zweifellos ihr Gespür für gesellschaftliche Stimmungen, gepaart mit politischer Geschmeidigkeit. Sie kann abrupt mitdrehen, wenn der Wind die Richtung wechselt, wie etwa beim Atomausstieg oder beim Aussetzen der Wehrpflicht. Auch den Weg für die "Ehe für alle" ebnete Merkel Mitte 2017 bewusst beiläufig bei der Veranstaltung der "Brigitte". Sie hob den Fraktionszwang auf und räumte damit eine der letzten konservativen Bastionen. Bei der Abstimmung im Bundestag stimmte sie selbst aber dagegen. Ein Lehrbeispiel für die Methode Merkel: schnell umschalten und sich stets fragen, was politisch durchsetzbar ist und mit wem.
Visionärin? Wohl kaum
Als Überzeugungstäterin oder Visionärin wird die Kanzlerin kaum in Erinnerung bleiben. Dafür aber als Garant der Stabilität in Zeiten von Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Frei nach Winston Churchills Spruch "Never let a good crisis go to waste", schien Merkels Autorität mit jeder neuen internationalen Herausforderung besonders im Ausland zu wachsen.
Gegen Ende ihrer Amtszeit wurde sie vom liberalen Teil Amerikas sogar zur letzten Verfechterin der freien Welt erkoren, zur mächtigsten Gegenspielerin Donald Trumps. Merkel selbst hat darüber in Hintergrundgesprächen nur den Kopf geschüttelt. Wer bei den unzähligen Gipfeltreffen dabei war, erlebte sie vielmehr als Vermittlerin - oft auch die letzte Instanz. Die Frau, die die Dinge in einer langen Nachtsitzung doch am Ende noch zusammenführt, für die Kompromisse kein Zeichen von Schwäche sind, sondern der einzige Weg, um gemeinsam voranzukommen. Wenn auch mit Trippelschritten.
Oft in der Rolle der Vermittlerin: Merkel mit den G7-Staatschefs und den Spitzen der EU in Elmau im Juni 2015.
Stabilität und Stillstand
Merkel ist keine Revolutionärin, die Neues anstößt. Visionäre Ideen und große Worte sind ihr verdächtig. Sie sorgt für Stabilität, aber verwaltet gleichzeitig auch den Stillstand. Damit ist sie mitverantwortlich für eine gefährliche Art Debattenlosigkeit in diesem Land. Wo die gesellschaftliche Mitte zu bräsig und konsensual wird, erstarken die lauten Ränder. Wo alles scheinbar alternativlos ist, profilieren sich die falschen Alternativen.
Merkels programmatischer Versuch 2005, eine neoliberale Wende herbeizuführen, hat sie fast um die Kanzlerschaft gebracht. Danach ging sie nicht mehr ins politische Risiko. 2015 aber hat sie sich unerwartet klar positioniert, als sie während der Flüchtlingskrise entschied, die deutschen Grenzen nicht zu schließen. Auch wenn sie nach ihrem viel zitierten Satz "Wir schaffen das" nie erklärte, was genau und wie Deutschland "das" schaffen sollte. Eine europäische humanere Flüchtlingspolitik hat Merkel in ihrer Amtszeit nicht durchsetzen können. Aber auch hier wird ihr Satz bleiben: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
Sprung vom Drei-Meter-Brett
Aus Merkels Jugend ist eine Geschichte überliefert. Sie soll als Schülerin lange zögernd auf einem Drei-Meter-Brett gestanden haben und erst gesprungen sein, als die Pausenglocke klingelte. Gerade noch rechtzeitig, damit der Sprung noch zählt. Merkel ist auch in großen politischen Krisen oft sprichwörtlich gerade noch so rechtzeitig gesprungen. Vielleicht in der Hoffnung, dass sich die Probleme durch das Zuwarten schon von selbst in die richtige Richtung entwickeln würden.
Bei zwei großen Krisen ist ihre Taktik allerdings nicht aufgegangen. In der Corona-Krise ist der Reformstau und die Krisenunfähigkeit Deutschlands schonungslos aufgedeckt. Und angesichts der Klimakatastrophe scheiterte Merkels Strategie des Abwartens, Zauderns und Zögerns auf ganzer Linie. Die verlorenen Jahre sind nicht mehr aufzuholen und bürden ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin schmerzhafte Entscheidungen auf, um das Schlimmste noch zu verhindern.
Zaudern, Zögern, Abwarten: Beim Klimaschutz blieb Merkel unter ihren Möglichkeiten.
Schatten auf dem politischen Vermächtnis
"Politik ist, was möglich ist", sagte Merkel jungen Klimaschützern zur Rechtfertigung. Doch ausgerechnet angesichts der Klimakrise, der größten Menschheitsaufgabe, vor der die Welt jetzt steht, hat die vermeintliche Klimakanzlerin nicht einmal versucht, die Grenze des Möglichen auszuloten. Merkel weiß, dass dies dunkle Schatten auf ihr politisches Vermächtnis wirft.
Und auch das Desaster beim Afghanistan-Abzug hat Merkel mitzuverantworten. Die Frage, warum so spät auf Warnungen reagiert wurde und warum deutsche Bürger und Ortskräfte erst so spät ausgeflogen und das Problem zur Chefsache gemacht wurde, dürfte außenpolitisch Spuren hinterlassen.
Wenn Merkel jetzt von der politischen Bühne abtritt, schafft sie etwas, woran bislang alle ihre Vorgänger gescheitert sind: den selbstbestimmten Absprung von der Macht. "Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Dann will ich kein halbtotes Wrack sein", sagte sie bereits 1998 der Fotografin Herlinde Koelbl. Dieses selbstgesteckte Ziel hat die Kanzlerin weitgehend erreicht.
Zur Wahrheit gehört aber wohl auch, dass sie im Herbst 2018 nach schlechten Landtagswahlergebnissen unter größtem Druck ihr Amt als Parteivorsitzende geopfert hat, um sich als Kanzlerin doch noch über die gesamte Legislaturperiode zu retten. Selbst ihre damals designierte Nachfolgerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, wurde überrumpelt und vor vollendete Tatsachen gestellt. Für Kramp-Karrenbauer ging die Sache schief. Für Merkel nicht.
Doch ihrer Partei steht nach 16 Jahren Merkel das Wasser bis zum Hals. Und so hat die sonst so präsidiale Kanzlerin ausgerechnet bei ihrer wohl letzten Rede im Bundestag entschieden, doch noch in den Wahlkampf einzugreifen und für Armin Laschet Werbung zu machen. Ganz gegen ihre langjährige Maxime, wer ihr nachfolgt, müsse schon allein laufen können. Merkel dürfte kühl abgewogen haben, was ihr angesichts der schlechten Umfragewerte mehr schadet: der Ausflug in die Niederungen der Parteipolitik oder aber nach der Wahl in den Geschichtsbüchern lesen zu müssen, sie habe am Ende ihrer langen Regierungszeit eine rot-grüne Regierung herbeigeführt.
Ende ohne Pathos
Ihre Amtszeit endet, wie sie begonnen hat: nüchtern, ohne großes Pathos und vermutlich bis zum letzten Tag gefüllt mit viel Arbeit. Kaum denkbar, dass sie sich, wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder, von einem reichen Despoten auf die Gehaltsliste setzen lässt. Oder, dass sie, wie einst Helmut Kohl, aus dem Ruhestand heraus gegen alle und alles ankämpft, das dem Selbstbild für die Nachwelt gefährlich werden könnte. Merkels Antwort auf ihre Pläne für die Zeit nach ihrer Kanzlerschaft sind typisch nüchtern und uneitel: "Dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal."
Wobei ihr letzter Tag im Kanzleramt sich hinziehen könnte. Nach der vergangenen Bundestagswahl dauerte es mehr als vier Monate, bis die neue Bundesregierung stand. Nicht unmöglich also, dass die Neujahrsbotschaft noch einmal von Angela Merkel kommt.
Anmerkung: Angela Merkel hat sich bei der Abstimmung zur "Ehe für alle" nicht enthalten, sondern mit Nein gestimmt. Wir haben die Stelle korrigiert.