Bundestagswahl 2017 Die Risiken der Briefwahl
Seine Stimme per Post abzugeben ist bequem, immer mehr Menschen machen davon Gebrauch. Verfassungsexperten sehen das mit Sorge - und warnen vor den Risiken.
Die Briefwahl gibt es seit 1957. Damals wurde sie eingeführt, um die "Allgemeinheit der Wahl", einen elementaren Wahlrechtsgrundsatz der deutschen Demokratie sicherzustellen. Er besagt, dass möglichst jeder Wahlberechtigte die Möglichkeit haben soll, an der Wahl teilzunehmen, ohne dass ihn bestimmte Gründe wie zum Beispiel sein Alter, sein Aufenthaltsort am Wahltag (Stichwort "Urlaub") oder seine Gesundheit daran hindern könnten. Jede Stimme ist wertvoll. Zu Recht weisen die Parteien im Vorfeld ihre Wähler auf die Möglichkeit der Briefwahl hin.
Seit 2008 keine Nennung von Gründen mehr nötig
Ein halbes Jahrhundert lang konnte man seine Stimme nur dann per Brief abgeben, wenn man dies begründen und die Gründe auch glaubhaft machen konnte. Diese Regelung schaffte der Gesetzgeber 2008 ersatzlos ab, was offenbar noch mehr Menschen dazu bewegte, sich den Wahlsonntag lieber für andere Dinge freizuhalten.
Verfassungsrechtler haben nicht erst seit der Lockerung des Briefwahlrechts Bedenken. Die Kritikpunkte im Einzelnen:
1. Gefährdung des Wahlgeheimnisses
Bei der Briefwahl ist nicht nachvollziehbar, ob der Wahlberechtigte seine Stimme unbeeinflusst, unbeobachtet und höchstpersönlich abgegeben hat. Die Gefahr besteht, dass Wähler eingeschüchtert oder bestochen werden. Auch die Beeinflussung behinderter oder dementer Menschen ist theoretisch möglich, ebenso wie die Weitergabe bereits unterschriebener, aber noch nicht ausgefüllter Unterlagen.
Ein entsprechender Vermerk findet sich auch im Bericht der OSZE/ODIHR-Wahlbewertungsmission zur Bundestagswahl 2009. Nach Einschätzung der Wahlbeobachter "sollte überlegt werden, die bestehenden Sicherungsmechanismen gegen den potenziellen Missbrauch des Briefwahlsystems auf ihre Eignung zu überprüfen".
2. Beeinflussung des Meinungsbildungsprozesses
Wer sich bereits Wochen vor dem eigentlichen Wahltermin festlegt, bezieht möglicherweise Ereignisse, die kurz vor der Wahl stattfinden, nicht in seine Wahlentscheidung ein.
Die Gleichheit der Wahl, so der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Uni Göttingen, verlange aber auch, dass die Wahlberechtigten zumindest theoretisch über die gleichen Kenntnisse verfügen, die für die Wahlentscheidung von Relevanz sein können. Insofern sei die Gleichzeitigkeit der Abstimmung ein wichtiges Element einer jeden Mehrheitsentscheidung.
Thiele erklärt: "Haben einige Abstimmende aufgrund einer späteren Stimmabgabe 'Sonderwissen', kann das die Legitimität einer Mehrheitsentscheidung insofern ernsthaft gefährden, weil auch früher Abstimmende mit diesem Wissen möglicherweise anders abgestimmt hätten und das Ergebnis der Wahl dann unter Umständen nicht die tatsächliche Mehrheitsmeinung wiederspiegelt."
Der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Universität Göttingen
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach mit dem Thema Briefwahl befasst und sie trotz der Risiken für verfassungskonform erklärt. In seinen Entscheidungen hat es der "Allgemeinheit der Wahl", also einer möglichst hohen Wahlbeteiligung, einen größeren Stellenwert beigemessen als einer drohenden Gefährdung des Wahlgeheimnisses.
Ein falsches Signal
Staatsrechtler Thiele sieht in der Ausdehnung der Wahlzeit auf mehrere Wochen aber ein falsches verfassungspolitisches Signal.
Der Wahltag ist der für eine Demokratie bedeutendste Tag und insoweit kann und muss erwartet werden, dass sich die Bürgerinnen und Bürger – soweit möglich – auch die Zeit nehmen. Stattdessen lieber zu 'brunchen' und deshalb die Briefwahl zu nutzen, ist letztlich kein akzeptables Verhalten, wenn es darum geht, die Funktionsfähigkeit der Demokratie zu erhalten.
Wählen am Mittwoch?
Thiele hält es deshalb für sinnvoll, die "grundlose" Briefwahl wieder abzuschaffen und zur alten Regelung zurückzukehren. Damit die Wahlbeteiligung nicht leidet, regt er andere Maßnahmen wie zum Beispiel die Einführung eine Wahlpflicht an, wie sie auch in anderen Demokratien besteht.
Um die Bedeutung des Wahltags zu verdeutlichen, sollte dieser nach Thieles Vorstellungen auf einen Mittwoch verlegt werden. Der könne aber allgemeiner gesetzlicher Feiertag werden, verbunden mit offiziellen Feierlichkeiten im Sinne eines "Wahlfeiertags".