Medienethiker zum Breivik-Prozess Das Dilemma der Journalisten
Die Berichterstattung über den Breivik-Prozess ist für Journalisten eine Gratwanderung. Genügen sie ihrer Informationspflicht oder bieten sie dem Attentäter eine Bühne? Im Interview mit tagesschau.de erklärt der Medienwissenschaftler Christian Schicha, wie Journalisten mit diesem Dilemma umgehen sollten.
tagesschau.de: Hunderte von Journalisten, Berichterstattung in aller Welt - der Prozess gegen Anders Behring Breivik stößt auf großes Medieninteresse. Hat sich die Art der Berichterstattung seit den Attentaten selbst Ihrer Beobachtung nach verändert?
Christian Schicha: Ich habe zumindest festgestellt, dass die Journalisten ihre eigene Rolle zunehmend problematisieren. Das finde ich bemerkenswert. Journalisten sprechen intensiv über ihre eigene Rolle, ihre eigene Befindlichkeit und ihre eigenen Emotionen. Es wurde sehr kritisch reflektiert, ob man dem Täter eine Bühne geben soll. Ob man diesen faschistisch anmutenden Gruß mit ausgestrecktem Arm und geballter Faust zeigen soll oder nicht zeigen soll. Das sind neue Entwicklungen. Die Berichterstattung wurde nicht maschinell abgearbeitet.
Prof. Dr. Christian Schicha hat in Essen Kommunikationswissenschaften und Philosophie studiert. Neben seiner Tätigkeit als Studienleiter und Standortleiter an der Mediadesign Hochschule in Düsseldorf ist Schicha auch Redakteur und Herausgeber für verschiedene medienethische Publikationen.
tagesschau.de: Sollte man denn solche Bilder wie das des Grußes zeigen oder sollte man sie nicht zeigen?
Schicha: Die Bilder sind überall zugänglich. Selbst wenn die Redaktion der einen Nachrichtensendung sich dagegen entscheidet, ist es kein Problem, diese Bilder irgendwo anders zu sehen. Ich finde es aber gleichwohl nicht verkehrt, genau das zu problematisieren und das zu beschreiben. Ich bin insgesamt der Auffassung, dass Medienschaffende viel zu wenig darüber nachdenken, wie man mit solchen Situationen umgeht. Da finde ich es grundsätzlich positiv, wenn solche Fragen in den Raum gestellt werden.
tagesschau.de: Die Debatte um die Art der Berichterstattung nimmt fast so viel Raum ein wie die Berichterstattung über den eigentlichen Prozess. Ist das gerechtfertigt?
Schicha: Es ist notwendig. Die Journalisten stecken ja in einem Dilemma. Einerseits müssen sie über relevante Sachverhalte Öffentlichkeit herstellen. Auf der anderen Seite müssen sie vermeiden, dem Täter eine Bühne zu bieten. Wobei: Eine solche Bühne hat Breivik ja schon exzessiv genutzt. Der Gruß, das hämische Lächeln, die Tränen und dann natürlich seine Erklärung. Dass das für die Angehörigen, aber auch für die Journalisten und die Öffentlichkeit nur schwer zu ertragen, muss aus meiner Sicht thematisiert werden.
"Relevantes von Nicht-Relevantem unterscheiden"
tagesschau.de: Auf welche Regeln kann sich ein Journalist in einer solchen Situation berufen? Oder muss er sich auf sein Bauch- und Fingerspitzengefühl verlassen?
Schicha: Aus journalistischer Perspektive geht es immer um eine Form von Einordnung. Journalisten haben die Aufgabe, relevante Sachverhalte von den nicht-relevanten zu unterscheiden und die relevanten zu vermitteln. Also steht am Anfang die umfassende Recherche, um den Fall nicht nur plakativ zeigen zu können, sondern um eben auch Hintergründe darlegen zu können. Außerdem gilt es, unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen zu lassen, den Rechtsanwalt genau wie den Staatsanwalt. Das ist das Regelwerk, mit dem sich Journalisten beschäftigen sollten.
"Entscheidung mit Symbolcharakter"
tagesschau.de: Manche norwegische Tageszeitung verzichtet auf Fotos von Breivik oder bietet im Internet eine Zeitungsversion ohne Berichterstattung an. Ist das ein guter Weg?
Schicha: Ich kann nachvollziehen, dass es vor allem die Angehörigen kaum erträglich ist, wenn sie immer wieder mit diesem Bild des Attentäters konfrontiert werden. Aber die Entscheidung der norwegischen Journalisten hat eher Symbolcharakter. Man will auf die Problematik hinweisen, dass die Flut an Bildern dazu führt, dass Menschen massiv verletzt werden. Da kommen in den Familien sicher Emotionen hoch, mit denen man schwer umgehen kann.
tagesschau.de: Die Medienaufmerksamkeit entspricht Breiviks Intention. Wo liegt die Grenze zwischen (unfreiwilliger) Komplizenschaft und (unabhängiger) Berichterstattung?
Schicha: Es muss ja berichtet werden. Bei einem so grauenhaften Verbrechen mit 77 Toten wäre es unverantwortlich, darüber nicht zu berichten. Die Medien würden sich auf ein solches Vorgehen nicht einigen können. Eine solche Verpflichtung zum Stillschweigen hat es nur in wenigen Fällen, zum Beispiel bei Entführungen, gegeben. Hier ist der Fall anders gelagert: Der Täter ist gefasst worden. Der Prozess findet statt.
Ich finde es richtig, dass dokumentiert wird, dass rechtsstaatliche Maßstäbe greifen. Dass ein Schöffe, der die Todesstrafe fordert, von seiner Aufgabe wegen Befangenheit entbunden wird. Ich finde es auch richtig, Breivik nicht beim Verlesen seiner Erklärung zu zeigen. Trotzdem wird man nie ganz verhindern können, dass die eine oder andere Situation aus dem Ruder läuft. Das war zum Beispiel der Fall, als Breivik sein eigenes Video ansah. Sicher ist es schwer erträglich zu sehen, dass der Richter Breivik die Hand reicht. Ich aber halte es für ein Dokument der Stärke einer funktionierenden Demokratie, dass das in Norwegen so gemacht wird. Auch ein Mörder hat einen Anspruch auf ein faires und gerechtes Verfahren. Würde man anders damit umgehen, hätte der Rechtsstaat ein Problem.
"Entmenschlichung ist nicht akzeptabel"
tagesschau.de: Häufig ist schon vom „Massenmörder Breivik“ die Rede, obwohl der Prozess gerade erst begonnen hat und noch kein Urteil gesprochen wurde. Was halten Sie davon?
Schicha: Das ist, wie immer, eine Gratwanderung. Breivik hat die Tat gestanden, so dass man dazu neigt, "Mörder" zu sagen. Juristisch wäre es korrekt, ihn als Angeklagten zu bezeichnen. So lange kein Urteil gefallen ist, ist er kein verurteilter Mörder und dürfte eigentlich nicht so genannt werden. Ich persönlich kann aber mit der nicht-juristischen Variante leben. Schwierig finde ich aber Begriffe wie "Monster" oder "Bestie". Wenn eine Entmenschlichung vorgenommen wird, finde ich das nicht sonderlich konstruktiv und halte es auch für nicht akzeptabel. Der Erkenntniswert solch einer Berichterstattung ist auch ziemlich gering.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de