Jahresbilanz 2010 - Die Köpfe des Jahres (3): Horst Köhler - der unerwartet Abtretende
"Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen": So verabschiedete sich Horst Köhler im Mai als Bundespräsident. Obwohl Medien zuvor seine Amtsführung bemängelt hatten und Oppositionspolitiker zuletzt ein Interview Köhlers zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan scharf kritisiert hatten, kam das völlig überraschend.
Von Birgit Wentzien, SWR, ARD-Hauptstadtstudio
Am Vormittag des 31. Mai 2010 erreicht eine knappe Pressemeldung des Bundespräsidialamtes die Berliner Redaktionen. Der Bundespräsident bittet zur Pressekonferenz. Ein Thema bleibt Horst Köhler schuldig. Die Korrespondenten fahren ins Schloss Bellevue. Niemand ahnt, was geschieht.
"Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen", sagt Horst Köhler. Das Klicken der Kameras der Fotografen ist die einzige Reaktion. Gut drei Dutzend Korrespondenten sind regelrecht perplex. Köhler sagt: "Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten - mit sofortiger Wirkung." Und er scheint einen Augenblick auf Fragen geradezu zu warten. Nimmt die Brille ab und starrt gerade aus. Die Wucht seiner einminütigen Erklärung aber ist größer als die Neugier der Journalisten. Keiner reagiert.
Köhler nimmt die Hand seiner Frau und geht ab von der Berliner Bühne. Und er verschwindet so, wie er gekommen war - unbequem und unverstanden. Und bis heute blieb er eine nachvollziehbare Antwort auf die Frage schuldig: Warum?
Er erwartete mehr Respekt
"Diese Kritik, sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen", sagt Köhler. Auf einer Auslandsreise nach China macht Köhler einen Abstecher nach Afghanistan und gibt auf dem Rückflug ein Radio-Interview. Er rechtfertigt den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und spricht davon, dass militärische Einsätze im Notfall auch zur Verteidigung von Handelswegen notwendig werden könnten. Er wird dafür nach Rückkehr heftig kritisiert.
Zu diesem Zeitpunkt ist Köhler fast allein in Bellevue. Mehr und mehr Mitarbeiter haben sich verabschiedet, sein Pressesprecher geht und die Leiterin seines Büros. Der Chef Köhler gilt als schwierig, anspruchsvoll, fordernd.
Beim Amtsantritt 2004 hat er diese Eigenschaften ein wenig eingeräumt: "Das wollte ich eigentlich nicht so gerne verraten, aber vielleicht bin ich manchmal zu ungeduldig, aber die Ungeduld kommt aus dem Bestreben, Dinge zu lösen."
Zum Jahresende 2010 zieht tagesschau.de Bilanz. Welche Politiker haben in den vergangenen zwölf Monaten für Schlagzeilen gesorgt, welche Themen haben die Agenda bestimmt und wie hat sich die Parteienlandschaft verändert? Reporter aus dem ARD-Hauptstadtstudio blicken zurück auf ein Jahr, das geprägt war von überraschenden Rücktritten, unerwarteten Popularitätszuwächsen und Reformen, die die politische Landschaft verändern.
"Er war nicht umzustimmen"
Als Horst Köhler verabschiedet und Christian Wulff als neuer Bundespräsident vereidigt wird, vollzieht Bundestagspräsident Norbert Lammert den Wechsel. Mit Lammert, Angela Merkel und mit dem damaligen Bundesratspräsidenten Jens Böhrnsen hatte Köhler kurz vor seinem Rücktritt telefoniert.
Über den genauen Inhalt der Gespräche ist nichts bekannt. "Er war sehr entschlossen, ja, er hatte diese Entscheidung gefällt und er war nicht umzustimmen", sagt Merkel. Bekannt ist, dass zwei dieser drei Gesprächspartner Köhler durchaus zu verstehen gegeben haben, dass man das Amt des Bundespräsidenten nicht einfach mal so abgeben kann, wie den Vorsitz eines Golfclubs. "Niemand von uns steht unter Denkmalschutz. Weder die Parlamente, noch die Regierungen. Nicht einmal das Staatsoberhaupt", so Lammert.
Köhler berät jetzt Sarkozy
Am Ende des Jahres ist ein neuer Posten für Horst Köhler in Sicht. Er wird einer von vielen Beratern von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. Der will sich als Chef im Ring der Gruppe der G20, der größten Industrie- und Schwellenländer, vor allem um eine gerechte Weltwährungsordnung kümmern. Und für Horst Köhler schließt sich ein Kreis. Als Chef des Internationalen Währungsfonds in New York war er ins Amt als deutsches Staatsoberhaupt gekommen. Damals mit dem Anspruch: "Deutschland hat mir viel gegeben. Davon möchte ich etwas zurück geben." Möglicherweise kann er diesen Anspruch jetzt vollenden.