Hintergrund

Deutscher Ärztetag in Hannover Armut macht krank

Stand: 28.05.2013 03:31 Uhr

Ob ein Mensch gesund ist oder nicht, ist in Deutschland keine reine Glückssache. Auch Armut und Bildung spielen eine Rolle: Wer wenig Geld hat, ist häufiger fettleibig, raucht öfter und stirbt mit höherer Wahrscheinlichkeit früher. Der Deutsche Ärztetag sucht nach Lösungen.

Von Von Sandra Stalinski, tagesschau.de

Obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, nimmt die Armut hierzulande immer mehr zu: Von 1998 bis 2008 ist der Anteil der Menschen, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind, von elf auf 14 Prozent gestiegen. Bereits seit 30 Jahren belegen zahlreiche empirische Studien, dass Armut sich auch auf den Gesundheitszustand der Menschen auswirkt. Beide Entwicklungen findet der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, alarmierend.

"Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander und das bedeutet, dass sich auch die Gesundheitsprobleme verschärfen werden." Auf dem 116. Deutschen Ärztetag in Hannover sollen deshalb die Gesundheitsfolgen von Armut diskutiert werden.

Und die sind eklatant: Nach Erhebungen des Robert-Koch-Instituts liegt die Lebenserwartung von Frauen aus der Armutsrisikogruppe acht Jahre unter der von Frauen mit höheren Einkommen. Bei Männern beträgt die Differenz sogar elf Jahre. Grund dafür ist in vielen Fällen nicht nur Armut, sondern vor allem ein geringerer Bildungsgrad. "Rauchen und Fettleibigkeit sind inzwischen Schichten- und somit Bildungsprobleme", sagt Montgomery. "Deshalb können wir Ärzte das nicht allein lösen. Wir müssen schon sehr früh bei Kindern und Jugendlichen ansetzen und ihnen beibringen, wie gesunde Ernährung funktioniert und dass der Mensch Bewegung braucht."

Tabak, Alkohol und schlechtere Wohnbedingungen

Gerade die verbreiteten chronischen Erkrankungen sind es, die bei Menschen mit geringem Einkommen und geringer Bildung häufiger auftreten als beim Rest der Bevölkerung. Dazu zählen beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, chronische Bronchitis und bestimmte Krebsarten wie Lungen- oder Leberkrebs. "Wir merken das besonders bei Krankheiten, die mit dem Konsum von Tabak oder Alkohol zu tun haben", sagt Thomas Lampert, Leiter des Fachgebiets Gesundheitsberichterstattung des Robert-Koch-Instituts (RKI). Neben diesen klassischen Risikofaktoren spielten aber auch andere Indikatoren ein Rolle wie beispielsweise schlechtere Wohnbedingungen, Lärmbelästigung oder eine stärkere psychische beziehungsweise Arbeitsbelastung, die häufiger bei Geringverdienern auftrete.

Laut einer soeben veröffentlichten Studie des RKI zum Thema sind 36,2 Prozent der Frauen mit niedrigem sozialen Status adipös, also fettleibig (Männer: 28,8 Prozent), während es bei den Frauen mit höherem sozialen Status nur 10,5 Prozent (Männer: 15,5 Prozent) sind. Ähnlich verhält es sich bei Diabetes mellitus. 11,8 Prozent der sozial benachteiligten Frauen erkranken daran (Männer: 11 Prozent), während es bei den Frauen mit höherem sozialen Status nur 3,2 Prozent sind (Männer: 6,3 Prozent). Für die "Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland" (DEGS1) wurden mehr als 8000 Personen zwischen 18 und 79 Jahren befragt.

Weitere Ergebnisse der Studie DEGS1
Schlechter subjektiver Gesundheitszustand Depression Sportliche Inaktivität
Frauen 11,8% 5,6% 34,3%
Sozial benachteiligte Frauen 43,5% 16,0% 48,9%
Männer 14,2% 4,3% 18,9%
Sozial benachteiligte Männer 36,7% 11,1% 33,0%

Ungleichheiten vergrößern sich

Eine ältere RKI-Studie von 2010 weist zudem darauf hin, dass ärmere Menschen nicht nur häufiger von bestimmten Krankheiten betroffen sind, sondern im Alltag auch stärker durch diese Krankheiten eingeschränkt sind. Neben Dauer und Schweregrad der Krankheit hängen die damit verbundenen Einschränkungen nämlich auch von den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und der sozialen Unterstützung ab. So haben Frauen mit Armutsrisiko gegenüber anderen Frauen ein zweifach erhöhtes Risiko, aufgrund einer Krankheit in der Alltagsbewältigung eingeschränkt zu sein. Bei Männern beträgt das Verhältnis sogar 2,9:1.

Wie stark sich diese Tendenzen zuspitzten, ist allerdings momentan noch schwer zu beurteilen. Mehrere Forschungsprojekte der vergangenen Jahre kommen zu dem Schluss, dass sich die Ungleichheit beim Gesundheitszustand ärmerer und reicherer Bevölkerungsschichten zumindest nicht verringert haben - und das, obwohl sich der Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung in den meisten Bereichen verbessert hat. "Um gesicherte Aussagen über Trends zu treffen, brauchen wir Zeitfenster von etwa 20 Jahren, die haben wir allerdings noch nicht", sagt Thomas Lampert vom RKI. "Wir haben aber einige Anhaltspunkte dafür, dass sich die Ungleichheiten vergrößern. Und das, obwohl sich die Politik das Thema Chancengleichheit auch im Gesundheitswesen schon seit einiger Zeit auf die Fahnen schreibt."

In Schulen und Vereine gehen

Immerhin, es gibt den § 20 im Sozialgesetzbuch - fünftes Buch/Gesetzliche Krankenversicherungen (SGB V), in dem die Krankenkassen zu Maßnahmen angehalten werden, die besonders den sozial Benachteiligten zugute kommen. Das sei schon einiges, findet Thomas Lampert, ein solches Gesetz habe nicht jedes Land. "Trotzdem fehlt es an einer breiteren gesetzlichen Basis, da haben wir Nachholbedarf." Ein Präventionsgesetz, das mehr Gesundheitsvorsorge sicherstellen soll, scheiterte in den vergangenen Jahren mehrfach im parlamentarischen Prozess.

Dabei ist Prävention das einzige Mittel, das helfen kann, da sind sich Fachleute einig. "Wir müssen so früh wie möglich ansetzen und dorthin gehen, wo die Menschen von dem Problem betroffen sind: beispielsweise in Schulen und Vereinen in sozialen Brennpunkten", meint Lampert. Aber man müsse auch die eigentlichen Ursachen bekämpfen, also Armut und Mangel an Bildung, sonst gerate man auf Dauer in einen Teufelskreis.

Noch drastischer drückt das Frank Ulrich Montgomery aus: "In 20 bis 30 Jahren wird uns diese Entwicklung sehr große Probleme bereiten." In den vergangenen 20 Jahren habe sich die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung durch die bessere medizinische Versorgung um durchschnittlich vier Jahre erhöht. Aber je mehr die Kinder, die heute übergewichtig seien und sich zu wenig bewegten, in die älteren Jahrgänge vorrückten, desto mehr werde sich dieser Trend abflachen. Dieses Problem werde dann in der Zukunft nur noch medizinisch zu lösen sein.