Soziologe fordert mehr Aufmerksamkeit "Antisemitismus ist ein Problem der Mitte"
Auf der internationalen Antisemitismus-Konferenz warnte Bundestagspräsident Norbert Lammert vor mehr Judenfeindlichkeit nach mehr Zuwanderung. Im Interview mit tagesschau.de widerspricht Soziologe Klaus Holz: Es sei falsch, Flüchtlinge und Migranten für Antisemitismus in Deutschland verantwortlich zu machen.
tagesschau.de: Bundeskanzlerin, Bundestagspräsident und auch der Außenminister haben auf einer internationalen Parlamentarierkonferenz eindringlich vor zunehmender Judenfeindlichkeit gewarnt. Warum ist Antisemitismus in der Gesellschaft offenbar tief verankert?
Klaus Holz: Alle sozialwissenschaftlichen Untersuchungen seit 1945 weisen deutlichst nach, dass wir in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung unterschiedlich stark ausgeprägte antisemitischen Ressentiments konstatieren müssen. Zurzeit geht man davon aus, dass etwa 20 Prozent der Deutschen antisemitisch eingestellt sind.
Dabei erfüllt Antisemitismus, wie andere Vorurteile auch, immer einen bestimmten Zweck: Es geht unter anderem darum, über die Definition von Andersartigkeit die Welt zu erklären und sich der eigenen Verantwortung zu entledigen. Antisemitismus entsteht immer wieder neu, weil dieser Mechanismus seit Jahrhunderten immer wieder neu genutzt wird. Im Umkehrschluss heißt das: Gegen Antisemitismus vorzugehen, ist nicht mit einer einzelnen Maßnahme möglich, sondern der Kampf gegen Antisemitismus muss ebenfalls ein andauernder Prozess sein.
tagesschau.de: Wie äußert sich Antisemitismus im 21. Jahrhundert?
Holz: Es ist wichtig, das Augenmerk nicht unbedingt auf die extremen Formen – zum Beispiel unter Neonazis - zu richten, sondern auf die subtilen Ausprägungen zu achten, die in der Breite der Bevölkerung verankert sind. Das drückt sich zum Beispiel in einer konstanten abwehrenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus. Etwa die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich durch die deutsche Geschichte offenbar so belastet, dass man den berühmten Schlussstrich ziehen will. Dass dies nicht möglich ist, wird dann den Juden angelastet. Eine Abwehrhaltung gegen die Verantwortung, die aus der eigenen Geschichte entsteht, wird in eine Schuldzuweisung uminterpretiert.
Ich finde das im Grunde schockierend, denn es bedeutet, dass man den Nachfahren der Holocaust-Opfer das Mitgefühl verweigert. Dabei müsste doch klar sein, dass eine solche Familien- und Lebensgeschichte Juden und Jüdinnen über Generationen belastet.
Antisemitismus rechts wie links verankert
tagesschau.de: Inwieweit unterscheidet sich der Antisemitismus von rechts von dem von links?
Holz: Auch in der linken Szene ist Antisemitismus verankert. Er hat aber nicht die gleiche Virulenz und die gleiche Militanz wie der in der rechten Szene. Und: Auf der rechten Seite ist Judenfeindlichkeit konstitutiv, sie gehört gewissermaßen zur Grundausstattung. Das ist auf der linken Seite nicht der Fall. Hier ist Antisemitismus durchaus umstritten. Zum Beispiel wird Solidarität mit den Palästinensern kritisiert, wenn sie allein Israel die Schuld am Elend der Palästinenser zuschreibt.
tagesschau.de: Bundestagspräsident Norbert Lammert hat auf der Konferenz betont, auch Flüchtlinge müssten das Existenzrecht Israels anerkennen. Welche zusätzlichen Herausforderungen ergeben sich durch die hohen Zahlen von Flüchtlingen und Migranten?
Holz: Ich halte das nicht für eine spezifische Herausforderung, sondern genau für einen Teil der Daueraufgabe, die alle Bevölkerungsteile einschließt. Wir haben Antisemitismus in Deutschland nicht wegen der migrantischen Bevölkerung. Außerdem gilt: Was für den nicht migrantischen Bevölkerungsteil richtig ist, ist auch prinzipiell für Flüchtlinge richtig. Wir müssen die breite Prävention mindestens weiterführen, vor allem im Bereich der außerschulischen Bildung auch ausbauen.
Flüchtlinge und Migranten für Antisemitismus in Deutschland verantwortlich zu machen, ist falsch und soll nur davon ablenken, dass Antisemitismus ein Problem in der Mitte der Gesellschaft ist. In Afghanistan zum Beispiel ist Antisemitismus lange nicht so verankert wie in Deutschland.
Fremdenfeindlichkeit verdeckt Judenfeindlichkeit
tagesschau.de: Inwieweit greifen Fremdenfeindlichkeit und Judenfeindlichkeit ineinander? Und überlagert der derzeitige Fokus auf die Fremdenfeindlichkeit eventuell die Wahrnehmung von Antisemitismus?
Holz: Ja, zurzeit ist das so, wie man anhand der AfD beobachten kann. Deren Fremdenfeindlichkeit steht im Fokus, ihr Antisemitismus nicht. Ich warne aber davor, den Blick einzeln auf diese Problemfelder zu richten. Wenn wir Fremdenfeindlichkeit thematisieren und gleichzeitig den Zuwanderern eine judenfeindliche Haltung zuschreiben, leugnen wir den Antisemitismus im eigenen Land und wollen die Zusammenhänge nicht sehen.
Diesem Mechanismus kann Prävention nur entgegentreten, wenn sie sich grundsätzlich gegen Vorurteile insgesamt richtet: gegen Fremde, gegen Juden und Jüdinnen, gegen Schwule und Lesben. Was passiert, wenn das nicht passiert, beweist der Front National in Frankreich, der sich als der große Beschützer der Juden geriert, aber nur deswegen, um den Rassismus gegen Muslime zu rechtfertigen.
tagesschau.de: Antisemitische Tendenzen sind nicht nur in Deutschland zu beobachten, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Ist zu befürchten, dass sich diese Entwicklungen gegenseitig hochschaukeln?
Holz: Ohne Frage gibt es einen Effekt der Verstärkung. Dass es den Rechten in Europa gelingt, sich in großem Stil zusammenzuschließen, halte ich allerdings für wenig wahrscheinlich. Die einzelnen Bewegungen sind äußerst nationalistisch orientiert, was internationale Bündnisse schwierig macht. Die Rechte will ja europäische und völkerverbindende Kontakte eher auflösen als intensivieren, will ja den abgeschotteten, autonomen und souveränen Staat. Was die europäische Rechte vor allem eint, ist die Antihaltung gegenüber Europa und den „Fremden“. Aber das reicht kaum für eine positive gemeinsame Agenda.
Ich sehe allerdings ein anderes Problem: Zum einen erschweren die erstarkten rechten Parteien eine stabile Regierungsbildung. Zum anderen wird rechte Programmatik von anderen Parteien übernommen, in der trügerischen Hoffnung, den Rechten so das Wasser abzugraben. Bezogen auf Deutschland heißt das: Der Versuch, der AfD das Flüchtlingsthema wegzunehmen, führt dazu, dass Politik gegen Flüchtlinge gemacht wird. Damit torpediert man die eigene Prävention, denn Politik gegen Flüchtlinge ist nie und nimmer Politik gegen Vorurteile. Das drückt sich schon dadurch aus, dass immer von der "Flüchtlingsfrage", der "Flüchtlingskrise" oder dem "Flüchtlingsproblem" gesprochen wird.
Vorurteile insgesamt bekämpfen
tagesschau.de: Viele Menschen jüdischen Glaubens leben mit einem wachsenden Gefühl der Unsicherheit. Wie müssen Politik und Gesellschaft darauf reagieren?
Holz: Wichtig ist vor allem zu akzeptieren, dass die Bekämpfung von Vorurteilen im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen eine Daueraufgabe ist, die nicht allein der Schule überlassen werden kann. Die außerschulische, politische Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung müssen einbezogen werden. Hier engagieren sich viele zivilgeschaftliche Organisationen, die tatsächlich die Menschen vor Ort erreichen. Hier begegnen sich am ehesten Menschen mit Vorurteilen und solche, die sich reflektiert von ihren Vorurteilen befreien wollen.
Eine stärkere Förderung dieser hoch kompetenten Bildungsarbeit, zum Beispiel durch einen Ausbau des "Kinder- und Jugendplans" des Bundesfamilienministeriums, würde viel mehr zum Abbau von Vorurteilen, zur Aufklärung über Antisemitismus und zur Stärkung demokratischer, engagierter Haltungen beitragen als der jüngst beschlossene Ausbau des Verfassungsschutzes. Hier muss die Politik umdenken.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de