Propagandaschlacht in Venezuela Unwahrheiten im Kampf um die Macht
In Venezuela herrscht Chaos auf den Straßen. Regierungsanhänger und -gegner geraten seit Wochen aneinander. In dieser Lage arbeiten beide Seiten mit Lügen und Propaganda, um ihre Lager zu mobilisieren. Damit spalten sie das Land weiter.
Der Kampf zwischen Regierungsanhängern und Oppositionellen in Venezuela tobt derzeit auf den Straßen. In den letzten Wochen kamen mindestens acht Menschen ums Leben. Aber es ist auch ein Kampf um Informationen und Interpretationen. Die Medien berichten einseitig - entweder für oder gegen den amtierenden Präsidenten - und die Venezolaner wissen kaum noch, wem und was sie überhaupt glauben sollen.
Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro wirft der Opposition in seinem Land vor, in "terroristische Akte" involviert zu sein und mithilfe der USA einen Umsturz zu planen. Um das zu belegen, präsentierte er Mitte April sechs Videos im Staatsfernsehen. Eines davon zeigt einen jungen Mann, der mit nacktem Oberkörper auf dem Boden sitzt und erzählt, er sei von der Opposition dafür bezahlt worden, dass er an den gewaltsamen Protesten Anfang April in Caracas teilnehme.
Zweifelhafte Videos im Staatsfernsehen
Eine Lüge, berichtet am selben Tag die Tageszeitung "El Nacional“, die der Opposition nahe steht. Der Mann sei von Beamten zu einer Falschaussage gezwungen worden. Das regierungskritische Onlineportal "Efecto Cocuyo" geht sogar noch weiter, indem es behauptet: Die Lippenbewegungen des Mannes würden nicht mit dem Gesagten übereinstimmen. Tatsächlich ist die Qualität des Videos sehr schlecht und Audio- und Tonspur zeitlich versetzt. Zweifel an der Echtheit des Videos sind deshalb begründet. Es existieren aber noch zwei weitere Videos, in denen die angeblichen Zeugen verpixelt sind. Diese Aufnahmen lassen sich deshalb nicht final auf ihre Echtheit überprüfen.
Keine unabhängige Berichterstattung
Besonders für regierungskritische Journalisten wird die Arbeit immer schwieriger. Die Venezolanerin Eliangélica González etwa berichtete im Land für den kolumbianischen Sender Caracol über eine Studentendemo, als sie von bewaffneten Polizisten angegriffen, auf den Boden geworfen und weggeschleppt wird. Der ARD sagt sie: "Pressearbeit in Venezuela ist sehr, sehr schwer geworden. Wer kritisiert, wird kriminalisiert." Sie wirft der Regierung Zensur vor. "Ich durfte nicht über das berichten, was ich erlebt habe."
Unteres Ende auf Rangliste für Pressefreiheit
Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" stuft Venezuela in Sachen Pressefreiheit auf Rang 139 von 180 Staaten. "Von August 2016 bis Ende März dieses Jahres wurde mehr als 20 Journalisten und Medienmitarbeitern aus neun Ländern am Flughafen Caracas die Einreise verwehrt", sagt Christoph Dreyer von Reporter ohne Grenzen. Es sei ein klares Muster der Desinformationspolitik erkennbar.
Auch die ARD-Korrespondentin im Studio Mexiko, Xenia Böttcher, zuständig für das Berichtsgebiet Venezuela, hatte Probleme. "Wir bekommen für Venezuela kein Visum, wir können dort nicht frei arbeiten. Deshalb sind wir auf unsere Kontakte vor Ort angewiesen, die uns zum Beispiel via WhatsApp Videos aus dem Netz schicken. Oft sind die Videos aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen, was eine Verifikation für uns schwierig macht und dadurch unsere Arbeit erschwert."
Es entsteht eine Parallelwelt für Informationen: "Da eine unabhängige Presse im Land kaum noch existiert und die Internetdienste immer langsamer werden, verschaffen sich viele Menschen ihre Informationen nur noch aus privaten Chats", sagt ARD-Hörfunkkorrespondentin Anne-Katrin Mellmann. Das Problem: Die Inhalte, zum Beispiel über WhatsApp, stammen von vertrauten Leuten und werden deshalb kaum noch hinterfragt. Fehlinformationen werden so vielfach geteilt.
Altes Video in falschem Zusammenhang
Ein Beispiel dafür ist ein Video, das auch ARD-Korrespondentin Mellmann Anfang April über WhatsApp zugeschickt bekommt: Vom Balkon eines Hochhauses sieht der Zuschauer von Demonstranten gefüllte Straßen in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Es sind wohl Hunderttausende. Der Absender aus Venezuela schreibt, das Video zeige, wie groß der Protest gegen Präsident Maduro aktuell sei. In den Tagen darauf wird es auch mehrfach auf Twitter geteilt, unter anderem von der ehemaligen Staatschefin von Costa Rica, Laura Chinchilla.
Was die meisten User nicht wissen: Das Video entstand nicht im April 2017. Eine Recherche der ARD-faktenfinder mit der Rückwärtsbildersuche von Google ergibt, dass das Video zuvor schon vielfach bei Twitter und Youtube hochgeladen wurde – und zwar Anfang September 2016. Das Video zeigt: Am 01. September 2016 hatten in Caracas Hunderttausende konservative Oppositionelle gegen die regierenden Sozialisten demonstriert. Ein Abgleich mit Bildern aus dem Fotoarchiv belegt das.
Beide Seiten verbreiten Unwahrheiten
Falsche Informationen werden also von Anhängern wie Gegnern Maduros gestreut. Dieter Boris, emeritierter Professor der Universität Marburg und Lateinamerika-Experte, warnt jedoch davor, eine Seite als gut oder böse abzutun. "Es scheint mir, als ob Opposition wie Regierung verzerrte Seiten der Wirklichkeit an den Tag legen." Man müsse vorsichtig sein, wem man Glauben schenke und wem nicht.
So sei auch der Vorwurf des Giftgaseinsatzes von David Smolansky, Bürgermeister des Hauptstadtbezirks El Hatillo, schwierig zu beurteilen. Er hatte Anfang April via Twitter verbreitet, die Regierung Maduro setze Giftgas gegen die Demonstranten ein.
Einen Beleg für diese Behauptung lieferte er nicht - und auch sonst niemand. "Ich glaube eher, dass die Opposition damit Aufmerksamkeit erreichen wollte", sagt Lateinamerika-Experte Boris.