Rakete aus Nordkorea Japans besonnene Reaktion
Warum schoss Japan eine Rakete aus Nordkorea nicht ab? Funktioniert die japanische Abwehr doch nicht so, wie es die Regierung in Tokio verkündet hat? Der Sicherheitsexperte Schmidt sagt im Interview mit dem ARD-faktenfinder, Japan habe gute Gründe für diese zurückhaltende Reaktion gehabt.
ARD-faktenfinder: Zu welchem Zeitpunkt erlangte Japan Kenntnis von dem Test?
Hans-Joachim Schmidt: Unmittelbar nach dem Start der Rakete durch ein ortsfestes satellitengestütztes Infrarotwarnsystem der USA, später durch weitreichende schiffs- und landgestützte Radarsysteme der USA und Japans, als die Rakete hoch genug flog und der Flugweg durch die Erdkrümmung nicht mehr verdeckt wurde.
Die Radarsysteme können auch innerhalb weniger Sekunden den Flugweg der Rakete und den voraussichtlichen Aufschlagpunkt berechnen.
ARD-faktenfinder: Nach welchen Kriterien trifft Japan die Entscheidung, ob ein solcher Flugkörper abgeschossen wird oder nicht?
Schmidt: Der japanische Verteidigungsminister Itsunori Onodera hat hierzu auf einer Pressekonferenz am 29. August erklärt, dass Japan rechtlich nur dann einen solchen Flugkörper außerhalb der Erdatmosphäre abschießen darf, wenn die Rakete japanisches Territorium auf See (12-Meilenzone) oder an Land bedroht hätte. Dies war jedoch nach der berechneten Flugbahn nicht der Fall. Deshalb habe Japan den Flugkörper im Weltall nicht angegriffen.
Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass ein Abschuss über dem Meer zwischen Nordkorea und Japan dazu führen kann, dass dann Trümmerteile der Rakete auf japanischem Territorium landen und die Einwohner sowie die Infrastruktur gefährden.
Ein Abschuss im Weltraum vergrößert zudem das Risiko, dass der dabei entstehende Weltraumschrott temporär andere Satelliten und die internationale Weltraumstation bedrohen kann, bevor er wieder auf die Erde zurückfällt und in der Atmosphäre verglüht.
Eine Karte des japanischen Fernsehens zeigt die Flugbahn der Rakete
ARD-faktenfinder: Wäre mit den vorhandenen Mitteln überhaupt festzustellen, ob es sich um einen unangekündigten Test durch Nordkorea oder einen Ernstfall handelt?
Schmidt: Nein. Das ist durch die Frühwarnsysteme nicht feststellbar. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass Nordkorea diesen Test gemäß internationalen Vereinbarungen rechtzeitig vorher ankündigt hätte, damit der internationale Schiffs- und Flugverkehr davor gewarnt hätte werden können. Nordkorea hat bisher nur seine Satellitenstarts rechtzeitig international angezeigt - zum Beispiel 2009 über Japan.
ARD-faktenfinder: Wäre Japan mit seinen Abwehrsystemen grundsätzlich ausreichend in der Lage, sich gegen einen Angriff Nordkoreas zu schützen?
Schmidt: Solange Nordkorea nur wenige Raketen gleichzeitig gegen Japan einsetzen würde, kann sich Japan theoretisch schützen. Es besitzt dazu das landgestützte Patriot-Raketenabwehrsystem zur Punktverteidigung eines kleinen Gebietes (zum Beispiel Stadtteile von Tokio) und zusätzlich das schiffsgestützte SM-3 Raketenabwehrsystem mit dem AEGIS-Radar, das auch Mittelstreckenraketen abfangen und eine größere Region schützen kann.
Die von der Regierung Nordkoreas verbreitete Aufnahme soll den Start der ballistischen Mittelstreckenrakete des Typs "Hwasong-12" zeigen.
Derzeit verfügt Japan über sechs AEGIS-Kampfschiffe, bis 2020 sollen zwei weitere dazu kommen. Außerdem will Japan ab 2018 mit dem Aufbau von zwei landgestützten AEGIS-Ashore-Raketenabwehrsystemen beginnen, die dem der NATO in Rumänien und Polen vergleichbar sind.
Ob ein Abschuss auch praktisch möglich ist, hängt von der Zuverlässigkeit der Raketenabwehrsysteme ab. Die ist unter Experten strittig, weil sie noch nie unter Kriegsbedingungen getestet wurde, für das Abfangen eines Raketentests aber als ausreichend erscheint. Japan und die USA könnten sich dabei allerdings blamieren, sollte ein solcher Abfangeinsatz scheitern. Dieses Risiko muss mitbedacht werden.
ARD-faktenfinder: Ist Nordkorea technisch in der Lage, die USA anzugreifen?
Schmidt: Theoretisch ja, es hat dies mit den letzten zwei Tests seiner Interkontinentalraketen am 4. und 28. Juli nachgewiesen. Operativ ist diese Fähigkeit aber noch nicht erreicht, weil einmal unklar ist, ob dafür Nordkorea schon einen ausreichend gehärteten Wiedereintrittskörper zum Schutz des Nuklearsprengkopfes vor der Hitze beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre besitzt und den dazugehörigen Nuklearsprengkopf auch ausreichend verkleinern kann.
Außerdem muss die Nutzlast der Rakete dafür ausreichen, auch daran zweifeln noch Raketenexperten. Die Zuverlässigkeit einer Interkontinentalrakete ist schließlich erst nach 20 bis 30 erfolgreichen Starts ausreichend zu beurteilen. Davon ist Nordkorea noch weit entfernt.
ARD-faktenfinder: Welche militärisch-technischen Möglichkeiten hätten die USA, einen solchen Angriff abzufangen?
Schmidt: Es gibt zwei Möglichkeiten, die sich auch kombinieren lassen. Erstens könnten die USA im Falle eines drohenden Angriffs präventiv versuchen, diese Raketen vor dem Start durch einen Militärschlag auszuschalten. Es würde dann aber als erster angreifen und einen Militärkonflikt auslösen. Außerdem ist unsicher, ob die USA gleich beim ersten Angriff alle Startgeräte, die bei Kurz- und Mittelstreckenraketen alle mobil sind, sicher zerstören könnten.
Zweitens kann es dafür sein in den USA stationiertes Raketenabwehrsystem mit insgesamt 44 Startgeräten in Kalifornien und Alaska nutzen. Die Zuverlässigkeit dieses Systems (GBI-System = Ground Based Interceptor) wird jedoch von vielen Experten bezweifelt. Außerdem müssten gleichzeitig mehrere Abwehrraketen gegen eine Angriffsrakete eingesetzt werden, um eine hohe Zerstörungswahrscheinlichkeit zu erreichen.
ARD-faktenfinder: Was weiß man generell über den Stand der Entwicklung von Interkontinental-Raketen durch Nordkorea?
Schmidt: Dadurch, dass sich die Tests von Mittel- und Langstreckenraketen gut durch satelliten-, flugzeug- und schiffsgestützte Sensoren beobachten lassen, sind vor allem die USA relativ gut über die Leistungsfähigkeit und die Art des Antriebs (Flüssig- oder Feststoffantrieb) der nordkoreanischen Raketen informiert. Auch ihre Zuverlässigkeit und Reichweite lässt sich dadurch gut einschätzen.
ARD-faktenfinder: Ist durch diesen Test die Gefahr eines atomaren Erstschlags durch Nordkorea größer geworden?
Schmidt: Auch wenn Nordkorea gelegentlich verbal damit droht, ist dieses Risiko gegenwärtig minimal. Nordkorea achtet bei seinen Tests stets sehr genau darauf, seine Nachbarn und die USA nicht zu sehr zu provozieren. Die Führung in Nordkorea weiß genau, dass sie einen Militärkonflikt mit den USA nicht gewinnen würde und riskiert deshalb nicht zu viel.
Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un
Der letzte Mittelstreckentest ist ein Beispiel dafür. Nordkorea drohte zwar zuvor in sehr ambivalenter Weise, gleich vier Mittelstreckenraketen 30 bis 40 Kilometer vor Guam ins Meer zu schießen, nahm dann aber beim tatsächlichen Test wegen des hohen Eskalationsrisikos davon Abstand.
Es schickte nur eine Rakete nordöstlich über dünn besiedeltes Gebiet in Japan auf den leeren Pazifik. Der Start erfolgte auch diesmal nicht von seiner Ostküste, sondern im Westen nahe der Hauptstadt, um ein mögliches Abfangen durch amerikanische und japanische schiffsgestützte Raketenabwehrsysteme (SM-3) zu erschweren.
Das Interview führte Matthias Vorndran, MDR