Hintergrund

Linksextremismus Eine unterschätzte Gefahr?

Stand: 24.11.2020 07:35 Uhr

Die Debatte um linke Gewalt ist nach den Krawallen beim G20-Gipfel voll entbrannt. Die überwiegende Mehrheit linksextremer Straftaten ereignet sich im Umfeld von Demonstrationen - und steigt seit Jahren.

Von Von Melanie Bender, WDR & Andrej Reisin, NDR

Wer sich die Entwicklung der links motivierten Straf- und Gewalttaten anschaut, stellt schnell fest: Deren Zahl ist seit 2001 mehr oder weniger stetig angestiegen, und zwar von 4.418 auf 9.389 Straftaten im Jahr 2016 - sie hat sich also mehr als verdoppelt. Die Gewalttaten stiegen im selben Zeitraum von 1.168 auf 1.702, hier beträgt der Anstieg gut 45,7 Prozent. Die Zahlen stammen aus den jährlich vom Bundeskriminalamt (BKA) neben der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gesondert veröffentlichten "Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität" (PMK).

Der ARD-faktenfinder hat sich erstmals von Bundesinnenministerium (BMI) und Bundeskriminalamt (BKA) die langfristige Entwicklung der Gesamtzahlen und einzelner Deliktsbereiche zusammenstellen lassen. Da die Berechnungsgrundlage im Berichtsjahr 2001 geändert wurde, ist ein sinnvoller Vergleich der Zahlen nur bis zu diesem Jahr rückwirkend möglich.

Gewalttaten machen - wie in anderen Extremismusbereichen auch - nur einen kleinen Teil der Gesamtstraftaten aus, allerdings ist dieser Anteil im Bereich Linksextremismus höher als in anderen Bereichen. So gibt es im Rechtsextremismus beispielsweise regelmäßig eine Vielzahl sogenannter "Propagandadelikte", die mit der verbotenen öffentlichen Zurschaustellung von nationalsozialistischen Symbolen in Zusammenhang stehen.

Obwohl im Jahr 2016 im Bereich Rechtsextremismus 23.555 Straftaten begangen wurden (und damit rund zweieinhalb Mal so viele wie im Bereich Linksextremismus) liegen beide Spektren bei den Gewalttaten etwa gleich auf: 1.702 Gewalttaten von links stehen 1.698 von rechts gegenüber. Körperverletzungen stellen regelmäßig den größten Teil der Gewalttaten, allerdings ist ihr Anteil innerhalb des Bereiches Linksextremismus im Laufe der Jahre angestiegen. So waren 2016 916 der 1.702 Gewalttaten von links Körperverletzungen (53,8 Prozent), während dieser Anteil im Jahr 2001 noch bei 28,3 Prozent gelegen hatte.

Was versteht die PMK-Statistik unter "Gewalt"?
Die Definition von "Gewalt" ist bei der PMK eine andere als in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Die PKS fokussiert eng auf Gewaltanwendung gegen Personen und fasst unter "Gewaltkriminalität" u.a. Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raub, gefährliche und schwere Körperverletzung, Menschenraub und Geiselnahme zusammen.

Bei der PMK hingegen werden Brand- und Sprengstoffanschläge, Widerstand gegen Polizeibeamte oder Landfriedensbrüche entgegen dem Gewaltbegriff der PKS, aber auch teilweise entgegen dem allgemeinen Verständnis von "Gewalt" mit einbezogen, weil ihnen eine besondere Bedeutung für die politisch motivierte Kriminalität beigemessen wird.

Vor allem ereignisbezogene Gewalt

Die Gewalt von links ist dabei auffällig auf Demonstrationen oder deren Umfeld konzentriert. Darunter fallen auch Gewalttaten, die auf Gegenveranstaltungen zu Aufzügen und Kundgebungen des rechtsextremen Spektrums begangen werden. Regelmäßig richtet sich die weit überwiegende Mehrheit der Gewalt von links entweder gegen Polizeibeamte oder gegen das als politischen Gegner empfundene rechtsextreme Lager.

Allerdings gibt es hier laut BKA bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich der Art der Gewaltanwendung: So kommt eine Studie zum "Gewalthandeln linker und rechter militanter Szenen" zu dem Ergebnis, dass "beim linken Gewalthandeln" "der Stein-/Flaschenwurf im Vordergrund" stehe, während "für den rechten Phänomenbereich face to face-Gewalthandeln" typisch sei.

Ein Demonstrant schwingt vor brennenden Barrikaden eine Protestflagge.

Brennende Barrikaden, Steine und Flaschen als Wurfgeschosse: Laut BKA ein typisches Szenario linker Gewalt.

Direkte Gewalt gegen Personen eher selten

Bei den untersuchten Fällen lag der Anteil von Gewalttaten gegen Personen, bei denen lebensbedrohlichen Verletzungen zumindest billigend in Kauf genommen wurden, im rechten Spektrum bei 33,8 Prozent. Derselbe Anteil lag bei linken Gewalttaten gegen Personen bei zehn Prozent.

Damit einher geht die Zahl der durch politisch motivierte Gewalttaten tatsächlich verletzten Personen: 2016 wurden 653 Opfer durch linke Gewalttaten verletzt, während 1.283 Menschen Opfer rechtsmotivierter Gewalt wurden - fast doppelt so viele also.

Großereignisse prägen die Statistik

Angesichts der starken Ereignisbezogenheit linker Gewalt ist es für die Sicherheitsbehörden schwer einschätzbar, wie groß die permanente Gefahr ist, die von diesem Spektrum ausgeht. Großereignisse und eskalierte Demonstrationen sorgen im Bereich der links motivierten politischen Kriminalität jedenfalls regelmäßig für erhebliche statistische Schwankungen. Eine Sprecherin des BKA sagte dem ARD-faktenfinder dazu, dass "die Gewaltdelikte im Bereich der PMK-links insbesondere abhängig von stattfindenden Großereignissen" sind.

So wird der letzte Höchststand linker Gewalttaten im Jahr 2015 (2.246) vom BKA unter anderem auf Ausschreitungen bei der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main und Protestaktionen am Rande des G7-Gipfel im bayerischen Elmau zurückgeführt. Auch im statistisch ebenfalls sehr auffälligen Jahr 2009 gab es mit besonders heftigen Mai-Krawallen in Berlin und großen Ausschreitungen bei den Gegenveranstaltungen zu einem Aufmarsch von Neonazis in Hamburg signifikante Großereignisse.

Dementsprechend könnte die Eskalation der Gewalt beim G20-Gipfel in Hamburg zu einem erneuten Ansteigen der Gewaltdelikte führen, während die Zahl von 2015 auf 2016 um 24.2% zurückgegangen war.

BKA-Präsident Holger Münch bewertet das Risiko eines Terrorismus von links auch nach den Hamburger Ereignissen jedenfalls als gering. Man gehe hinsichtlich linksextremer Gefährder "von einer Größenordnung aus, die man an einer Hand abzählen kann", sagte Münch der "Frankfurter Rundschau". Doch die Fähigkeit zur Mobilisierung eines enormen Gewalpotenzials bei Großereignissen besitze die linksextreme Szene dennoch in zunehmendem Maße.

Die PMK-Zahlen seit 2001 in der Übersicht
Jahr PMK Links Davon Gewalt Davon Körperverletzung Davon Brandstiftung Davon Landfriedensbruch Davon Widerstand
2001 4.418 1.168 330 52 406 222
2002 3.639 806 340 50 208 137
2003 3.614 803 306 47 195 188
2004 3.521 789 324 35 193 178
2005 4.898 1.240 562 33 373 187
2006 5.363 1.209 626 49 258 181
2007 5.866 1.247 569 148 280 175
2008 6.724 1.188 589 139 214 164
2009 9.375 1.822 849 286 345 259
2010 6.898 1.377 787 138 185 180
2011 8.687 1.809 870 197 349 223
2012 6.191 1.291 683 94 240 203
2013 8.673 1.659 877 94 276 328
2014 8.113 1.664 924 114 266 263
2015 9.605 2.246 1.354 106 340 345
2016 9.389 1.702 916 171 237 272
Was beinhalten die Zahlen zur "Politisch motivierten Kriminalität"?
Als "Politisch motivierte Kriminalität" (PMK) werden zum einen alle Straftaten bezeichnet, die sich direkt gegen den Staat richten ("klassische Staatsschutzdelikte"). Dazu gehören u.a. Propagandadelikte, die Bildung einer terroristischen Vereinigung und Hochverrat.

Weiterhin werden Straftaten aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität erfasst, wenn sie zum Beispiel der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten. Auch Hassverbrechen gegen Gruppen oder Personen wegen deren politischer Einstellung, Nationalität, Hautfarbe oder Religion werden als PMK gewertet.

Die PMK-Statistik ist im Gegensatz zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) eine sogenannte Eingangsstatistik. Das heißt, sie enthält alle Verdachtsfälle, bei denen die Polizei einen extremistischen Hintergrund vermutet. Die PKS ist im Gegensatz dazu eine Ausgangsstatistik, die nur Fälle enthält, die die Polizei aus ihrer Sicht ausermittelt und der Staatsanwaltschaft übergeben hat.

Stellt sich zum Beispiel bei einer Brandserie, bei der ein extremistischer Hintergrund vermutet wird, später heraus, dass der Täter in Wirklichkeit ein einzelner Pyromane war, dann müssen die PMK-Zahlen des entsprechenden Jahres nachträglich korrigiert werden. Wie gründlich diese Korrektur in jedem Einzelfall erfolgt, ist nach Ansicht von Experten schwer zu überprüfen.

Obwohl die PMK-Zahlen also ein wichtiges Instrument für Polizei und Politik darstellen, ist ihre Basis im Vergleich zur PKS etwas weniger fundiert. Gemeinsam haben beide Statistiken, dass sie nur das sogenannte "Hellfeld" abbilden - also diejenigen Straftaten, die von der Polizei bzw. dem polizeilichen Staatsschutz erfasst werden.