Migrationsforschung "Pull-Faktoren werden deutlich überschätzt"
Jedes Mal, wenn die Zahl der Geflüchteten in Deutschland steigt, wird in der Politik über die sogenannten Pull-Faktoren diskutiert. Dabei halten Migrationsexperten diese Theorie längst für überholt.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, dazu die nach wie vor angespannten Lagen in Syrien und Afghanistan: Die Zahl der Geflüchteten in Deutschland ist deutlich höher als in den Vorjahren. Die Städte und Kommunen schlugen bereits Alarm, forderten mehr Unterstützung vom Bund für die Unterbringung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einem "humanitären Kraftakt".
Auch CDU-Chef Friedrich Merz mischte sich in die Debatte mit ein, warnte angesichts der Sozialleistungen für Geflüchtete in Deutschland vor "falschen Anreizen". Als Begründung dafür zog Merz die sogenannten Pull-Faktoren heran. Menschen aus vielen Ländern würden durch die finanziellen Mittel, die sie in Deutschland bekämen, angezogen werden. Bereits vor der Bundestagswahl 2020 hatte die CDU im Wahlprogramm den Pull-Faktor erwähnt.
Theorie geht auf die 1960er-Jahre zurück
Die Theorie der Push- und Pull-Faktoren geht auf den US-amerikanischen Soziologen Everett Lee aus den 1960er-Jahren zurück. Er versuchte damit, universelle Faktoren für Migrationsbewegungen aufzustellen. Lee unterschied dabei zwei Kategorien: Push-Faktoren - vom englischen Wort to push (drücken) - und Pull-Faktoren - vom englischen Wort to pull (ziehen).
Push-Faktoren beschreiben dabei die negativen Umstände im Herkunftsland, die Menschen aus ihren Ländern "wegdrücken". Dazu zählte Lee beispielsweise Kriege, Umweltkatastrophen oder Armut. Pull-Faktoren wiederum sind positive Umstände im Zielland, die Menschen "anziehen", wie hoher Lebensstandard oder Bedarf an Arbeitskräften.
Die Theorie von Lee wird immer mal wieder hervorgeholt, wenn es um das Thema Migration geht - vor allem bei steigenden Zahlen. Aber auch im Zusammenhang mit der Seenotrettung im Mittelmeer gibt es immer wieder den Vorwurf, dass durch die Rettung an sich Anreize zur Flucht geschaffen werden.
"Es ist eine vage Idee, mehr nicht"
In der Migrationsforschung hingegen gilt die Theorie von Lee längst als überholt. "Ich würde sagen, es ist eine sehr vage Idee, mehr nicht", sagt Frank Kalter, Direktor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Lange sei das Thema Migration sehr ökonomisch gedacht worden. Dabei gebe es zahlreiche andere Faktoren, die für Migration ausschlaggebend sein können. In der öffentlichen Debatte würden diese Faktoren jedoch "deutlich unterschätzt werden, während die ökonomischen Faktoren deutlich überschätzt werden".
Hinzu komme, dass es nicht möglich sei, "irgendwelche strukturellen Faktoren als Fluchtursachen abzuleiten, ohne das Entscheidungsverhalten der Individuen zu kennen", sagt Kalter. "Die Realität ist viel komplexer, als es dieses Modell suggeriert." Wenn die Menschen allein aus wirtschaftlichen Gründen ihre Zielländer aussuchen würden, dann "müsste die ganze Welt in Bewegung sein". Das sei sie aber nicht. "Und das liegt daran, dass Akteure einfach noch sehr viele andere Aspekte in ihre Gleichung mit einbeziehen."
Forscher verfolgen andere Ansätze
Auch für Tobias Heidland, Leiter des Forschungszentrums Internationale Entwicklung am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), greift die Idee von Push- und Pull-Faktoren zu kurz. Die Theorie gelte in der Migrationsforschung "eher als veraltet". "Der Hauptgrund dafür ist, dass das ein relativ starres Konstrukt ist", sagt Heidland.
Wenn man das mal wortwörtlich nimmt, dann kann es Faktoren geben, die schieben jemanden, und es gibt Faktoren, die ziehen jemanden. Der Mensch selber hat in diesem Modell eigentlich gar kein Mitspracherecht, sondern ist diesen Faktoren von außen komplett unterworfen.
In der Migrationsforschung werde daher heutzutage systematisch über zwei Dinge nachgedacht, sagt Heidland. "Erstens: Wer hat den Wunsch zu migrieren?" Das könne durch alle möglichen Faktoren passieren. Im zweiten Schritt bliebe dann die Frage: Wer von den Menschen, die in ein anderes Land wollen, hat überhaupt die Möglichkeiten dazu, beispielsweise finanziell? "Das erlaubt uns deutlich genauer zu verstehen, warum Menschen in bestimmten Kontexten migrieren und ganz besonders auch, warum migrieren so viele Leute nicht?", sagt Heidland.
Soziale Kontakte und Sprache wichtiger
Natürlich würden Faktoren wie Einkommen und Lebensstandard auch eine Rolle für die Wahl des Ziellandes spielen, sagt Heidland. "Werde ich da schlecht behandelt und habe keine Chance, meinen Lebensunterhalt zu verdienen oder ist es ein Land, was mir gewisse Möglichkeiten bietet? Das ist insbesondere dann relevant, wenn man nicht damit rechnet, dass man schnell wieder ins Herkunftsland zurückkehren kann."
Oft sei es für die Menschen jedoch gar nicht möglich, ökonomische Kalküle bei der Wahl des Ziellandes aufzustellen, "weil die Auslöser für die Flucht meistens vollkommen unvorhergesehen eintreffen", sagt Kalter. Soziale Netzwerke oder die Sprache spielten bei der Fluchtentscheidung eine "viel größere Rolle." "Die Verbindung zu Verwandten und Freunden ist das absolut dominante Motiv."
Das zeigen auch die Zahlen: Denn die meisten Ukrainer beispielsweise sind nach Polen geflüchtet. Die meisten geflüchteten Syrer sind hingegen in der Türkei registriert. "Das unterschätzt man ja auch immer vollkommen aus unserer Perspektive: Dass es meistens die unmittelbaren Nachbarländer sind, die in einer Krise am meisten Flüchtlinge aufnehmen", sagt Kalter. "Und zwar, weil es da bereits bestehende Beziehungen und eine geografische und kulturelle Nähe gibt."
"Willkommenspolitik" kein nachhaltiger Faktor
Eine Studie, die Heidland gemeinsam mit seinem IfW-Kollegen Jasper Tjaden erstellt hat, zeigt ebenfalls, wie wenig ein einzelner Faktor, wie beispielsweise die "Willkommenspolitik" 2015 unter der Führung der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Migration nachhaltig beeinflusst. Zwar habe es kurzfristig eine große Fluchtbewegung aufgrund des Kriegs in Syrien gegeben, sagt Heidland.
Aber wir finden keine langfristige Erhöhung des Wunsches von Menschen in anderen Ländern, nach Deutschland zu gehen. Das heißt, das Narrativ, dass die Politik von Merkel damals dafür gesorgt hätte, dass jetzt dauerhaft mehr Menschen nach Deutschland kommen wollten, lässt sich in den Daten nicht belegen.
Zumal viele der Menschen, die damals nach Europa geflüchtet seien, sich bereits vor der Entscheidung Merkels, die Grenzen nicht zu schließen, auf den Weg gemacht hätten, sagt Heidland. Somit könne für sie die Ankündigung keine Rolle für die Flucht gespielt haben.
Arbeitsmigration innerhalb der EU
Heidland weist zudem darauf hin, dass der Großteil der Migration, die stattfindet, gar keine Fluchtmigration sei - mit Ausnahme von solchen Jahren wie 2015 oder auch jetzt 2022. "Im Normalfall sind 90 Prozent oder mehr der Migration vor allem Arbeits- und Bildungsmigration, das meiste davon innerhalb der EU." Das werde in der öffentlichen Diskussion von Medien und Politikern oftmals nicht so abgebildet.
Jedes Jahr würden mehr als eine Million Menschen neu nach Deutschland kommen und auch mehr als eine Million Menschen Deutschland verlassen. "Die Nettomigration liegt im Normalfall unter 500.000", sagt Heidland. Ohne den jährlichen Zuzug aus dem Ausland würde Deutschland wegen der niedrigen Geburtenrate seit den 1970er-Jahren schrumpfen.
Auch für Arbeitsmigranten sei die Sprache einer der wichtigsten Faktoren für die Wahl des Ziellandes, sagt Heidland. "Davon hängt natürlich der Erfolg auf dem Arbeitsmarkt ab." Deswegen seien die Migrationsflüsse zwischen Deutschland und der Schweiz, Dänemark, und Polen auch deutlich höher als zwischen beispielsweise den Balkanstaaten und Deutschland. "Da zeigen sich diese Faktoren wie die räumliche Nähe, Sprache, und ähnlich funktionierende Arbeitsmärkte."