Faktencheck Maaßen und das Video von Chemnitz
Maaßen hat in einer Stellungnahme versucht, seine Äußerungen zu Chemnitz zu erklären. Offenbar fühlt sich der Chef des Verfassungsschutzes missverstanden.
Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen hat seine Aussagen zur Echtheit eines Videos zu den Ereignissen in Chemnitz relativiert. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios erklärte er in einem Schreiben an Bundesinnenminister Horst Seehofer, das Video sei nicht gefälscht, er sei falsch verstanden worden. Zweifel seien angebracht, ob das Video "authentisch" eine Menschenjagd zeige. Dies habe er mit seiner Kritik gemeint.
Auch nach Informationen des "Spiegel" und der "Süddeutschen Zeitung" bestreitet Maaßen nicht, dass das Video echt ist. Unter Berufung auf das Umfeld des Verfassungsschutzpräsidenten heißt es, Maaßen kritisiere "nur noch", dass die schnelle Veröffentlichung des Videos in großen Medien unseriös gewesen sei, weil niemand die Quelle und die Echtheit der Aufnahme zu dem Zeitpunkt hätte einschätzen können.
Damals hätte man annehmen können und müssen, argumentiert der BfV-Chef offenbar, dass es sich auch um eine Fälschung gehandelt haben könnte, die zur Ablenkung von dem Tötungsdelikt dienen sollte.
Was hatte Maaßen gesagt?
Maaßen hatte in der "Bild"-Zeitung gesagt, dem Verfassungsschutz lägen "keine belastbaren Informationen" darüber vor, dass Hetzjagden in Chemnitz stattgefunden hätten. Zudem zweifelte er Medienberichte an, in denen ein Video aus Chemnitz gezeigt worden war. Dazu sagte Maaßen: "Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist."
Bundesinnenminister Seehofer und Verfassungsschutzchef Maaßen (Archivbild Juli 2018)
Nach seiner "vorsichtigen Bewertung" gebe es "gute Gründe" dafür, dass es sich um eine "gezielte Falschinformation" handele, mit der von dem Mord in Chemnitz abgelenkt werden solle.
Diese Aussagen wurden von Medien und Politikern so interpretiert, dass Maaßen die Echtheit des Videos anzweifelt. Denn er sprach ausschließlich von dem Video, für dessen Authentizität es keine Belege gebe. Im Anschluss formulierte Maaßen dann, es gebe gute Gründe, dass "es" (also bei dem Video) sich um eine "gezielte Falschinformation" handele.
Warum sagte Maaßen, es sei "nichts hinzuzufügen"?
Die "Bild"-Zeitung hatte die Äußerungen von Maaßen am späten Abend des 6. September veröffentlicht. Der ARD-faktenfinder sowie zahlreiche weitere Medien kontaktieren am Morgen des 7. September das Bundesamt für Verfassungsschutz, um Nachfragen zu den Äußerungen zu stellen. Im Laufe des Tages wurde klar, dass sich Maaßen nicht dazu äußern wolle. Seine Sprecherin teilte mit, Maaßen werde sich aktuell nicht weiter zu dem Sachverhalt äußern. Den von der "Bild" zitierten Aussagen sei "derzeit nichts hinzuzufügen".
Am Abend veröffentlichte dann das Bundesamt eine Stellungnahme:
In Chemnitz gab es eine hohe Emotionalisierung und schnelle Mobilisierung, die sich auch Rechtsextremisten zu Eigen gemacht haben. Die sozialen Medien spielten auch hier für die Mobilisierung und die individuelle Meinungsbildung eine große Rolle. Gerade dort finden sich aber immer wieder Fake-News und Versuche der Desinformation. Das BfV prüft alle zugänglichen Informationen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts, um zu einer belastbaren Einschätzung der Ereignisse zu kommen. Die Prüfung insbesondere hinsichtlich möglicher "Hetzjagden" von Rechtsextremisten gegen Migranten wird weiter andauern.
Maaßen ließ also mitteilen, den Äußerungen in der "Bild" und der anschließenden Diskussion sei nichts hinzuzufügen. Weiterhin sprach das Bundesamt für Verfassungsschutz in einer Stellungnahme von "Fake-News und Versuche der Desinformation".
Konnte das Video nicht verifiziert werden?
Maaßen geht also offenkundig selbst von der Echtheit des Materials aus. Seine Kritik bezieht sich offenbar darauf, dass Medien seiner Ansicht nach vorschnell das Video gezeigt hätten.
Doch von Anfang an sprachen alle Kriterien dafür, dass das Video authentisch ist: Es wurde am Abend des 26. August auf Twitter veröffentlicht, wenige Stunden nach den Angriffen von Hooligans. Das Video war zuvor nicht im Netz hochgeladen worden. Eine technische Manipulation erscheint angesichts der Komplexität der gezeigten Bilder unmöglich in dieser kurzen Zeit.
Die Quelle war allerdings nicht bekannt. Dennoch gab es kaum Zweifel an der Echtheit: Die Bilder waren in Chemnitz aufgenommen, das zeigte die Bebauung im Hintergrund, die Bushaltestelle, ein Abgleich mit der Demonstrationsroute - und ein Vergleich mit anderen Videos.
Auch die Personen auf dem Video entsprachen vom Auftreten und Kleidung in etwa denen von anderen Videos von diesem Tag. Zudem lagen verschiedene Berichte von Journalisten und Augenzeugen vor, die mit dem Inhalt des Bildmaterials übereinstimmten. Eine solche Verifikation braucht nicht mehrere Tage, sondern kann in einigen Stunden geleistet werden. Die tagesschau setzte das Video neben Aufnahmen aus einem anderen Internet-Video erstmals am 27. August um 14.00 Uhr ein.
Ist "Antifa Zeckenbiss" ein Fake?
Maaßen spekuliert nun offenbar, es handele sich bei dem Konto von "Antifa Zeckenbiss" möglicherweise um keine Antifa-Gruppe. Wer hinter dem Account wirklich stehen könnte, sagte er nicht. Maaßen argumentiert in seiner Stellungnahme laut "Spiegel", dass "Antifa Zeckenbiss" den Behörden nicht bekannt gewesen sei. Zudem habe die Antifa-Gruppe in einer Verlautbarung davon geschrieben, dass sie den Film aus einer "patriotischen Gruppe" erhalten habe. Eine Wortwahl, die für die linke Szene eher unüblich sei. Aus Maaßens Sicht wären da mehr Zweifel angebracht gewesen.
Diese Zweifel hätte man am 26. oder 27. August allerdings noch gar nicht haben können im Hinblick auf die Wortwahl. Denn "Antifa Zeckenbiss" hatte bei der Beschreibung des Videos von "Nazi-Hools" geschrieben - und gar keine Angaben zur Quelle gemacht.
Erst am 7. September veröffentlichte die Antifa-Gruppe eine Stellungnahme, in der sie schrieb, man habe das Video in einer "patriotischen Gruppe" gefunden. "Patrioten" ist die Eigenbezeichnung von vielen rechtsradikalen Aktivisten und Gruppen auf Facebook. Dass eine Antifa-Gruppe also eine solche Gruppe so bezeichnet, erscheint nicht abwegig.
Zudem stellt sich die Frage, was Maaßen andeuten möchte: Handelt es sich bei den unbekannten Machern von "Antifa Zeckenbiss" tatsächlich um Rechte? Warum sollten die wiederum von dem Tötungsdelikt in Chemnitz ablenken wollen?
"Antifa Zeckenbiss" ist ein anonymer Account, der seit Februar 2018 auf Twitter aktiv ist. Es werden für die Antifa-Szene typische Inhalte veröffentlicht. Für die Annahme, dass es sich um einen Fake-Account zur gezielten Desinformation handelt, liegen bislang keine Hinweise oder Belege vor. Szene-Kenner aus Sachsen bestätigten dem ARD-faktenfinder zudem, dass es sich um reale Personen handele.
Semantische Debatte
Was bleibt, ist die Diskussion über die Frage, ob der Begriff "Hetzjagd" für die Übergriffe in Chemnitz angebracht war. Eine klare Definition für diesen Begriff gibt es nicht. Es ist auch nicht klar, wie viele Menschen wie weit gejagt werden müssen, damit man von einer Hetzjagd sprechen könne. Bei dem betreffenden Video werden offenbar zwei Personen angegriffen und über eine große Straße gejagt - wie ein weiteres Video nahelegt, nahmen mehrere Personen noch die Verfolgung auf.
Der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft sagte allerdings, es gebe laut dem derzeitigen Ermittlungsstand keine Hinweise auf Hetzjagden in Chemnitz. Auf dem betreffenden Video sei keine strafbewehrte Handlung zu sehen, wie etwa Nötigung, Körperverletzung oder Bedrohung.
Keine Zweifel an Echtheit
Zweifel an der Echtheit des von Maaßen genannten Videos sowie weiterer Aufnahmen von diesem Tag bestehen hingegen nicht. Medien haben also keineswegs gefälschtes Material verbreitet, so wie einige die Aussage von Maaßen in der "Bild" interpretiert hatten.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden bearbeitet zurzeit 140 Verfahren im Zusammenhang mit den Demonstrationen, die am 26. und 27. August in Chemnitz stattfanden. Ermittelt wird wegen Körperverletzung, Landfriedensbruch, Beleidigung und das Verwenden von verfassungsfeindlichen Kennzeichens (z.B. Hitlergruß). Gegen wie viele mutmaßliche Verdächtige genau ermittelt wird, lässt sich momentan noch nicht genau erfassen.
Angriff auch auf jüdisches Restaurant
Ermittelt wird auch wegen des Angriffs am 27. August auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz.
Der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie Sachsen (RAA) zufolge gab es allein am 26. August in Chemnitz sechs rassistisch motivierte Angriffe, davon fünf Körperverletzungen und eine Nötigung. Die Dunkelziffer liegt der RAA zufolge höher.
Zu der Diskussion um die Begriffe sagte Andreas Löscher von der RAA: "Es ist egal, ob man es Hetzjagd oder Jagdszenen nennen will: Tatsache ist, dass Menschen mit nicht-deutschem Aussehen verfolgt, geschlagen und in den Magen getreten wurden."