Fake News in Deutschland Schneller als die Polizei dementieren kann
Ein Mord von Flüchtlingen in Gifhorn, eine Terrorzelle in Berlin Rudow, ein islamistischer Anschlag in Heidelberg: drei gezielte Falschmeldungen, die sich zuletzt verbreitet haben - und die der Polizei viel Arbeit bereiten.
Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Mitte März in Gifhorn: Auf einem Parkplatz in der niedersächsischen Stadt wird ein Mann niedergestochen. Laut Polizeiangaben schwebt der 28-Jährige vorübergehend in Lebensgefahr. Obwohl die Hintergründe der Tat zunächst vollkommen unklar sind, verbreitet sich die Information, mehrere Flüchtlinge seien die Täter gewesen - und bei dem Opfer handele es sich um ein Mädchen, das an den Folgen der Attacke gestorben sei. Zudem sei ein weiterer Mann schwer verletzt worden, als er dem Mädchen habe helfen wollen. Ein Messerstich habe sein Herz nur knapp verfehlt.
Ein Szenario, das niemanden kaltlassen dürfte. Allerdings alles frei erfunden - stellt Thomas Reuter von der Gifhorner Polizei im NDR fest. Erneut habe eine erfundene Nachricht, die sich in Sozialen Netzwerken verbreitete, für Unruhe gesorgt. Dies sei bereits des Öfteren geschehen - eine "sehr unerfreuliche Entwicklung", beklagt Reuter. Die Polizei leitet strafrechtliche Ermittlungen in der Sache ein. Mehrere Personen, die die Fake News geteilt hatten, melden sich bei der Polizei und bedauern das Teilen der erfundenen Nachricht.
Auffällig an der Falschmeldung von Gifhorn: die vielen Details zu dem angeblichen Angriff der Flüchtlinge auf das Mädchen. Nutzer sollten sich fragen: Woher kommen diese Informationen überhaupt? Die Details in der Fake News sollen Glaubwürdigkeit vermitteln; es handelt sich um ein Stilmittel, mit dem der Urheber ganz gezielt Unwahrheiten verbreiten will, um Hass zu säen. Wirft ein Unbekannter mit kleinteiligen Informationen um sich, ohne nachvollziehbare Quellen zu nennen, ist also Vorsicht angebracht.
Vorhandene Verunsicherung vergrößern
Details erfinden, dafür relevante Informationen weglassen: ein klassisches Vorgehen, um einer wahren Begebenheit die gewünschte Richtung zu geben, oder um bereits vorhandene Verunsicherung zu vergrößern. In Berlin macht kurz vor Weihnachten per WhatsApp die Nachricht die Runde, eine Terrorzelle in Rudow plane Anschläge. Es existierten "verlässliche, vertrauliche Infos, dass es in Rudow eine Terrorzelle gibt, die Anschläge auf Einkaufszentren besonders in Neukölln verüben will". Im Fokus standen demnach die Gropiuspassagen. Laut Polizei verbreitet sich die Nachricht innerhalb kurzer Zeit, man habe "eine Menge Arbeit" gehabt, um dieses "sinnlose Gerücht wieder einzufangen".
Das Landeskriminalamt und Internet-Nutzer helfen den Ermittlern, um den Urheber der Fake News zu finden. Dieser gibt zu, sie frei erfunden zu haben.
Das Grauen wird instrumentalisiert
Die Urheber von Fake News versuchen, Aufmerksamkeit zu generieren und Empörungswellen zu entfachen. Die Motive können unterschiedlich sein: Geltungsdrang beispielsweise - oder politische Agitation. Dieses Phänomen ist Ende Februar nach einer "Todesfahrt" eines Mannes in Heidelberg zu beobachten. Der Mann steuert einen Pkw in eine Menschenmenge, greift danach noch Passanten mit einem Messer an, Assoziationen zu dem islamistischen Terroranschlag in Berlin liegen nahe.
Ein Ziel von Terroristen besteht darin, Unsicherheit und Panik zu verbreiten - die schnelllebige Aufregungsökonomie in den sozialen Medien spielt ihnen dabei oft in die Hände, wenn durch falsche Anschuldigungen, Meldungen und Vermutungen die Verunsicherung wächst. Im Fall Heidelberg bedrängen Twitter-Nutzer die Polizei, die Herkunft des Täters sofort zu veröffentlichen, sie unterstellen, die Polizei halte Informationen zurück und verschweige einen terroristischen Hintergrund.
Doch belastbare Hinweise und Indizien auf einen solchen Hintergrund liegen nicht vor. Obwohl die Polizei umgehend reagiert und die Spekulationen deutlich zurückweist, reißt der Strom von falschen Behauptungen nicht ab. Immer wieder dementiert die Polizei, der Täter sei ein Flüchtling oder es gebe einen islamistischen Hintergrund.
Doch bis heute macht die Behauptung die Runde, der Todesfahrer habe "Allahu Akbar" (Gott ist am größten) gerufen. Die Polizei betont hingegen: Ein islamistisches Motiv liegt bei dem Deutschen ohne Migrationshintergrund nicht vor.
Polizei massiv mit Falschmeldungen konfrontiert
Ulf Küch, Vize-Vorsitzender beim Bund Deutscher Kriminalbeamter, erklärt im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder, das Thema Fake News beschäftige die Polizeibehörden intensiv. Mittlerweile hätten solche Falschmeldungen eine Qualität erreicht, die es dem "Durchschnittsnutzer" kaum noch möglich mache, relativ schnell falsch und richtig zu unterscheiden. Allerdings appellierten die Länderpolizeien in Präventionsprogrammen auch an die Nutzer, sich Gedanken über die Herkunft von Informationen machen zu machen, bevor man alles glaube.
Küch selbst ist Kripochef in Braunschweig und Autor des Buches "SoKo Asyl". Insbesondere im Jahr 2015 hätte die Polizei in der Region schon Erfahrungen mit gezielten Falschmeldungen und Falscheinschätzungen durch bestimmte politische Kreise Erfahrungen gemacht und gesehen, "was geschieht, wenn weite Teile der Bevölkerung solchen tendenziösen Meldungen auf den Leim gehen". Bundesweit gebe es solche Beispiele, so Küch: vom Flüchtling, der Schwäne verspeise bis zur Massenvergewaltigung von Kindern. Es sei ausgesprochen schwer, dagegen anzugehen, betont Küch, "da mit der gezielt verschickten Falschmeldung auch Medien und Polizei verunglimpft und der Lüge bezichtigt werden".
Eine Frage des Glaubens
Hier wird ein Phänomen sichtbar, das die Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellt: Personen, die den "Mainstream-Medien" nichts glauben wollen, tun auch die Angaben von Polizei oder anderen offiziellen Institutionen pauschal als Lügen ab. Man sieht sich umzingelt von bösen Mächten; verschwörungstheoretische Versatzstücke verdichten sich so zu einem geschlossen Weltbild. Die betroffenen Menschen glauben einfach nur noch das, was ihrer Meinung und Weltsicht entspricht. Abweichende oder widersprüchliche Informationen sowie Meinungen werden nicht mehr ernstgenommen bzw. respektiert, sondern nur noch solche Quellen, die das berichten, was man hören will.
Auf dieses "Liefergebiet" haben sich zahlreiche, angeblich sehr kritische Medienangebote spezialisiert. Sie berichten genau das, was die Kundschaft sehen, lesen oder hören will. Die komplexe und oft widersprüchliche Realität wird in Gut und Böse eingeteilt, in Schwarz und Weiß - Zwischentöne dringen nicht mehr durch. Die Filterblase wird zur Falle.