Belegung von Intensivstationen Daten für klare Aussagen fehlen
Das RKI warnt, dass auf Intensivstationen jetzt mehr jüngere Menschen mit einer Corona-Infektion liegen. Doch zuverlässige Daten dazu gibt es nicht. Die Politik ist auf Vermutungen angewiesen.
Als die Bundeskanzlerin in der Nacht auf Dienstag eine Pressekonferenz gab, um die jüngsten Coronabeschlüsse zu verkünden, sagte sie, "dass sich die Intensivstationen wieder füllen und jetzt auch mehr Menschen im mittleren und jüngeren Alter schwere Verläufe zu verzeichnen haben". Wenige Tage zuvor hatte auch der Vize-Präsident der Robert Koch-Instituts, Lars Schaade, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Gesundheitsminister Jens Spahn sogar gesagt: "Wir sehen jetzt schon auf den Intensivstationen, dass sich die Patienten dort ändern, sie werden jünger."
Doch stimmt das überhaupt und was ist der Beleg dafür? Das RKI antwortet, dass Daten zum Alter der Patienten auf Intensivstationen "uns nur sporadisch bekannt werden". Nur aus einzelnen Krankenhäuser habe man entsprechende Daten.
Auch Prof. Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters, das jeden Tag über die Auslastung von rund 1200 Krankenhäusern mit Corona-Intensivapatienten informiert, sagt, dass man Daten zur Frage, ob die Patienten auf Intensivstationen tatsächlich jünger werden "noch nicht" habe. Sowohl RKI als auch DIVI wollen diese Daten jetzt aber erheben. Karagiannidis sagt, man versuche, diese Daten in der kommenden Woche in Nordrhein-Westfalen ermitteln. RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher teilt mit: "Das RKI plant, die Angaben zum medianen Alter der COVID-19-Fälle, bei denen eine Aufnahme auf Intensivstation übermittelt worden ist, ab dem nächsten Situationsbericht dienstags zu veröffentlichen."
Altersgruppen haben sich angenähert
Auch wenn die konkreten Daten fehlen, ist die Annahme, dass der Altersdurchschnitt auf den Intensivstationen derzeit sinkt, wahrscheinlich, weil sich das Durchschnittsalter der Infizierten zuletzt deutlich verringert hat. Während an den Tagen nach Weihnachten positiv getestete Menschen im Schnitt 49 Jahre alt waren, sind sie derzeit nur noch 39 Jahre alt.
Die größte Auswirkung dürfte dabei die Verringerung der Anzahl alter Menschen unter den Infizierten haben. Während Frauen und Männer über 80 Jahren zu Anfang des Jahres noch dreimal so häufig infiziert waren wie der Durchschnitt der Bevölkerung, sind sie jetzt sogar etwas seltener Infiziert.
Überhaupt hat sich das Infektionsrisiko über alle Altersgruppen hinweg zuletzt erstaunlich angenähert: So bewegten sich alle Inzidenzen laut der laborbasierten Surveillance des RKI in der Woche vor dem 21. März zwischen 25 und 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern. Kinder sind also nicht mehr selten und Alte nicht mehr überdurchschnittlich häufig infiziert. In seinem aktuellen Tagesbericht notiert das RKI: "Die Covid-19-Fallzahlen steigen in allen Altersgruppen wieder an, besonders stark jedoch bei Kindern und Jugendlichen."
Insgesamt sehr viele Ansteckungen
Dass der Rückgang der Alten unter den Infizierten nicht zu einer großen Entspannung auf den Intensivstationen führt, liegt vermutlich daran, dass sich derzeit insgesamt wieder sehr viele Menschen infizieren. Außerdem wird die zuerst in Großbritannien entdeckte Mutante B.1.1.7. inzwischen bei mehr als 70 Prozent aller Infizierten entdeckt wird und sie führt gleichzeitig zu schwereren Verläufen
Höhere Sterblichkeit bei Variante B.1.1.7
So hat eine im British Medical Journal veröffentlichte Untersuchung, die eine große Zahl von infizierten Briten vor allem im Alter zwischen 30 und 59 Jahren analysiert hat, festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, am mutierten Coronavirus zu versterben, bei 0,4 Prozent liegt, während diese Wahrscheinlichkeit bei der bisherigen Variante des Virus in dieser Altersgruppe nur bei 0,25 Prozent lag. Eine höhere Sterblichkeit führt zwangsläufig zuvor auch zu mehr Krankenhaus-Einweisungen.
Grundsätzlich scheinen Corona-Patienten in Deutschland aber häufiger auf einer Intensivstation zu landen als in anderen europäischen Ländern, was der Berliner Gesundheitswissenschaftler Reinhard Busse untersucht hat. So wurden in der zweiten Welle von Oktober bis Dezember in Deutschland 1,6 Prozent aller positiv Getesteten auf eine Intensivstation eingeliefert, in den Niederlanden und Großbritannien waren es dagegen nur 0,5 Prozent, in Spanien 0,4 Prozent und in Dänemark 0,3 Prozent.
Nach Angaben von Busse lag 2020 der Altersdurchschnitt der Corona-Patienten auf Intensivstation bei 71 Jahren, der Altersdurchschnitt der Verstorbenen aber zehn Jahre höher. Das erklärt auch, warum die meisten Menschen, die in Deutschland an Corona sterben, auch gar nicht auf einer Intensivstation versterben. Nur rund 30 Prozent der Corona-Todesfälle ereignen sich dort, 45 Prozent aller Corona-Todesfälle ereignen sich auf Normalstationen und 25 Prozent außerhalb des Krankenhauses, zum Beispiel in Alten- und Pflegeheimen. Die liegt unter anderem daran, dass viele ältere Menschen eine Patientenverfügung haben, wonach sie am Ende des Lebens nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden wollen.
Zahlreiche Daten fehlen
Dass es in Deutschland bisher keine vernünftigen Daten über die Altersverschiebung der Corona-Patienten auf Intensivstationen gibt, reiht sich ein in eine Kette von zentralen Fragen des Infektionsgeschehens, die in Deutschland nicht untersucht werden. So hat das zum Gesundheitsministerium gehörende das RKI bisher auch keine genauen Kenntnisse darüber, bei welchen Gelegenheiten sich die meisten Menschen infizieren, welche Berufsgruppen besonders betroffen sind oder welche Bevölkerungsschichten.
Außerdem kann das RKI auch nicht die Frage beantworten, wie viele Schnelltests die Testzentren durchführen und wie viele positive Schnelltest-Ergebnisse nach einer PCR in die Statistik der täglichen Neuinfektionen einfließen. Viele andere Länder verfügen über diese Erkenntnisse. Wissenschaftler kritisieren seit langem, dass die fehlenden Daten in Deutschland nicht nur ein unzulängliches Bild über das tatsächliche Infektionsgeschehen geben, sondern auch gezieltes Testen, gezielten Schutz oder gezielte Impfungen erschweren.