Corona-Pandemie in Deutschland Die perfekte dritte Welle
Steigende Inzidenz, höhere Positivrate und eine Mutation, die sich schnell ausbreitet: Alle Daten weisen auf eine dritte Corona-Welle hin. Entsprechende Simulationen scheinen nun Realität zu werden.
Das Infektionsgeschehen in Deutschland nimmt weiter deutlich zu: Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete 13.435 Neuinfektionen, fast 4300 Fälle mehr als am Mittwoch vor einer Woche. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt im Vergleich zum Vortag deutlich - von 83,7 auf 86,2. Vor einer Woche lag der Wert noch bei 65,4. Der Wert gibt an, wie viele Menschen je 100.000 Einwohner sich in den vergangenen sieben Tagen mit dem Coronavirus angesteckt haben.
Höhere Positivrate
Auch die Positivrate bei den durchgeführten PCR-Testungen wächst, was als Indiz für ein erhöhtes Infektionsgeschehen sowie ein wachsendes Dunkelfeld gilt. Die Analyse der "Akkreditierten Labore in der Medizin" (ALM) für die vergangene Kalenderwoche zeigt bei leicht steigenden PCR-Testzahlen (1.084.771; Vorwoche: 1.021.024) eine von 6,4 auf nun 7,2 Prozent gestiegene Positivrate. Insgesamt fielen 20 Prozent mehr PCR-Tests (77.660) positiv aus als in der Vorwoche (64.981).
Die Schnelltests sind offenkundig nicht der Grund, weshalb die entdeckten Infektionen zunehmen. Dies betonte RKI-Präsident Lothar Wieler vergangene Woche. Vielmehr gehe auch aus vielen anderen Indikatoren hervor, dass sich die Lage wieder verschärfe. In einigen Bundesländern steigt auch die Zahl der Corona-Intensivpatienten in Kliniken wieder.
Eine Datenauswertung des SWR zeigt ebenfalls, dass die Schnelltests keinen entscheidenden Anteil haben. Denn diese werden zumeist ohne konkreten Anlass genutzt, während PCR-Tests gezielt - beispielsweise bei Symptomen - eingesetzt werden.
Zehntausende Todesopfer in der zweiten Welle
Zudem vermeldete das RKI am Mittwoch 249 weitere Tote für den vorherigen Tag. Insgesamt sind in Deutschland damit fast 74.000 Corona-Infizierte verstorben, die meisten davon in der sogenannten zweiten Welle seit November. Im Dezember und Januar starben nach RKI-Angaben jeweils mehr als 21.000 Menschen, die infiziert waren. Zum Vergleich: Während der ersten Welle im vergangenen Frühjahr starben im März 1122 Menschen, im April 6047 und im Mai 1574.
Immerhin: Die Zahl der täglich erfassten Todesfälle ist in den vergangenen Wochen gesunken, was vor allem an den Impfungen der Älteren liegen dürfte. So starben in der ersten Kalenderwoche des Jahres in der Altersgruppe über 80 Jahre noch deutlich mehr als 3800 Personen, in der siebten Kalenderwoche waren es noch knapp 1300. Dennoch bleiben die Zahlen hoch, mit mehr als 200 Toten täglich.
Zudem sinkt die Zahl der täglichen Todesopfer nicht weiter, und Fachleute warnen eindringlich vor den Folgen der erneut steigenden Infektionszahlen sowie dem höheren Risiko auch für Jüngere durch die Mutante B.1.1.7.
Mutation im exponentiellen Wachstum
Die Mutationen haben sich in Deutschland schnell ausgebreitet - trotz der Schutzmaßnahmen, die Anfang des Jahres schärfer waren als gegenwärtig. Das RKI errechnete einen exponentiell ansteigenden Trend der Sieben-Tage-Inzidenz der Variante B.1.1.7 seit der zweiten Kalenderwoche des Jahres. Diese steigt laut RKI in jeder Woche um etwa 46 Prozent an und hat sich demnach etwa alle zwölf Tage verdoppelt.
Demgegenüber zeigt der Verlauf der Sieben-Tage-Inzidenz aller übrigen Varianten einen Rückgang um etwa 19 Prozent pro Woche. Diese beiden Trends überlagerten sich, was zunächst den Rückgang der Gesamtinzidenz verlangsamte, dann stoppte - und nun zu einem ansteigenden Trend geführt hat. Vor diesem Hintergrund geht das RKI davon aus, dass die Fallzahlen schon bald über dem Niveau von Weihnachten liegen könnten. Intensivmediziner fordern daher dringend schärfere Maßnahmen.
RKI: Ausbrüche in Kitas und Schulen
Die Kombination aus der Mutation und teilweise wieder geöffneten Schulen und Kitas treibt die Inzidenz bei Jüngeren in die Höhe. Die Meldeinzidenzen steigen laut RKI bei Kindern und Jugendlichen in allen Altersgruppen an. Im Situationsbericht des RKI heißt es dazu:
Dies zeigt sich besonders frühzeitig in der Altersgruppe 0-5 Jahre und betrifft auch die Daten zu Ausbrüchen in Kitas, die sehr rasch ansteigen und über den Werten von Ende letzten Jahres liegen. Eine ähnliche Entwicklung deutet sich mit zeitlicher Verzögerung (aufgrund der erst kürzlich erfolgten Öffnung) auch für die Schulen an. Bei dieser Entwicklung spielt die Ausbreitung leichter übertragbaren, besorgniserregenden Varianten (VOCs; insbesondere B.1.1.7) nach den uns vorliegenden Hinweisen eine Rolle.
Inzidenz bei Kindern steigt stark
Bei Kindern steigen die Zahlen rasant, was angesichts der sinkenden Inzidenz bei den Älteren zunächst nicht so stark auffällt. Erst, wenn die Altersgruppen differenziert betrachtet werden, wird die Dynamik deutlich. Laut RKI stieg die Sieben-Tage-Inzidenz bei den Fünf- bis Neunjährigen in der zehnten Kalenderwoche auf fast 100 Fälle pro 100.000. In der sechsten Kalenderwoche lag der Wert noch bei 37. Bei den Null- bis Vierjährigen stieg der Wert in diesem Zeitraum von 34 auf 74; bei den Zehn- bis 14-Jährigen verdoppelte er sich von 38 auf 76.
Bei den Ältesten sank die Inzidenz in dieser Zeit hingegen deutlich, bei den mittleren Altersgruppen gab es nach einem deutlichen Rückgang wieder ein leichtes Wachstum.
Regionale Unterschiede
Die bundesweiten Zahlen verwischen zudem die starken regionalen Unterschiede. In einigen Ländern und Kommunen sind drastische Steigerungen zu beobachten. Thüringen ist besonders stark betroffen, aber auch in anderen Bundesländern finden sich Kreise mit sehr hohen Inzidenzwerten, besonders bei den Jüngsten. Das RKI verweist in seinen Tagesberichten immer wieder auf Ausbruchsgeschehen in Schulen und Kindergärten.
Der Forscher Dirk Brockmann von der Humboldt Universität Berlin sagt im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder: "Wir sehen, wenn man das Geschehen regional feiner anschaut, dass viele Regionen eine sehr niedrige Inzidenz haben." Andere sind hingegen besonders stark betroffen. Man müsse also "regional differenziert reagieren - und zwar schnell".
"Einfache Gesetzmäßigkeiten"
"Die Situation ist sehr, sehr beunruhigend", stellt Brockmann fest, "aber letztendlich folgt die Pandemie einfachen Gesetzmäßigkeiten." So sei der R-Wert des Wildtyps während des Lockdowns kleiner als eins gewesen, der von B.1.1.7 in der Retrospektive aber größer. "Lockerungen jeder Art heben den R-Wert beider Varianten", so Brockmann weiter.
Die Mischung aus der Dynamik der Wildtype mit exponentiellem Zerfall und dem exponentiellen Wachstum der B.1.1.7 Variante habe zu der Wannenform in den Fallzahlen geführt, die nun in Grafiken deutlich wird. "B.1.1.7 übernimmt jetzt und die Zahlen ziehen an", sagt Brockmann. Er betont, die bereits seit Wochen vorliegenden Simulationen, die die wachsende Dominanz der Variante und das damit verbundene exponentielle Wachstum beschreiben, schienen sich nun zu bewahrheiten. Deutschland ist also - folgt man den vorliegenden Simulationen, Fachleuten und Daten - auf dem direkten Weg in die dritte Welle.