Europawahl 2024
Bedeutung der EU-Wahl für Bund Ampelparteien könnten abgestraft werden
Die Europawahl wird traditionell als Gelegenheit genutzt, mit der Regierungspolitik abzurechnen - mit der Arbeit der Ampel sind derzeit nur wenige zufrieden. Für das Bündnis Sahra Wagenknecht ist die Wahl ein erster Stimmungstest.
Für die Ampelkoalition kommt diese Europawahl zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt - für Sahra Wagenknecht und ihr Bündnis (BSW) liegt sie genau richtig. Das Ergebnis heute wird ein erster wichtiger Hinweis darauf sein, ob sich mit dem BSW eine weitere neue Partei in der bundesdeutschen Politik etabliert. Ihre Basis liegt in den ostdeutschen Bundesländern, wo im September drei Landtagswahlen anstehen.
Das BSW dürfte dabei von den aktuellen Problemen der AfD profitieren. Die Demontage des Spitzenkandidaten Maximilian Krah fiel für die AfD ohnehin in eine Zeit sinkender Umfragewerte. Und als europaskeptische Partei ist die Mobilisierung in einer europafreundlichen Bundesrepublik ohnehin nicht leicht. Vieles deutet darauf hin, dass das BSW einen guten Teil seiner Wählerschaft aus dem Kreis der Unzufriedenen rekrutiert, die sich zuletzt bei der AfD zu Hause gefühlt haben. Die Vorwahlbefragung, die Infratest dimap in der vergangenen Woche für die ARD durchgeführt hat, zeigt vor allem zwei Motive, das BSW zu wählen: das Werben für Gespräche und Verhandlungen mit Russland - und Sahra Wagenknecht als Person selbst.
Zufriedenheit mit Regierung historisch niedrig
Die Wählerinnen und Wähler haben die Europawahl in Deutschland schon immer als Gelegenheit genutzt, mit der aktuellen Regierungspolitik im Bund abzurechnen. Die Zustimmung zur Arbeit der Bundesregierung ist mit nur 22 Prozent zwar nicht mehr auf dem Tiefpunkt des Winters, aber immer noch in einem historisch niedrigen Bereich. Noch unzufriedener als mit der eigentlichen Politik der Ampel sind die Befragten damit, wie die Koalitionspartner miteinander umgehen und wie sie ihre Politik vermitteln: Jeweils 85 Prozent geben hierfür schlechte Noten.
Am stärksten macht sich die Unzufriedenheit mit der Ampel an Bundeskanzler Olaf Scholz fest. Sowohl die Befragten insgesamt als auch die SPD-Anhänger erwarten zu mehr als 80 Prozent, dass Scholz in der Regierung eine klarere Richtung vorgeben sollte. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) mit 32 Prozent Zustimmung und Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit 30 Prozent sind zwar alles andere als populär, Scholz kommt aber nur auf 25 Prozent. Mit Abstand anerkanntestes Kabinettsmitglied ist weiterhin Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit 59 Prozent.
Volksparteien verlieren Kernkompetenzen
Auffällig ist, wie wenig die Union als im Bund stärkste Oppositionsfraktion von der Stimmung gegen die Regierung profitieren kann. Nur 39 Prozent der Befragten trauen ihr zu, die Regierungsarbeit besser zu machen. Unsere Daten zeigen außerdem, dass sich für die beiden traditionellen Volksparteien ein langjähriger Trend fortsetzt: Sie verlieren ihre Kernkompetenzen. Für die SPD messen wir den bisher geringsten Kompetenzwert für soziale Gerechtigkeit bei nationalen Wahlen, für die Union den niedrigsten in der Wirtschaftspolitik vor einer Europawahl.
Zum ersten Mal ist bei den Grünen ein ähnliches Phänomen zu beobachten: Verlust von Kernkompetenz. Während noch vor fünf Jahren ihre Arbeit auf dem Feld der Klima- und Umweltpolitik auch bei denen überwiegend unumstritten war, die die Grünen nicht wählen wollten, hat sich das deutlich geändert. Der Kompetenzwert fällt von 56 Prozent bei der letzten Europawahl auf nur noch 33 Prozent. Das Potenzial für die Grünen ist deutlich geschmolzen.
Friedenssicherung vor Klimaschutz
Damit einher geht eine Verschiebung der Themen, die für die Wählerinnen und Wähler entscheidend sind. War 2019 - auch in Erinnerung an heiße und trockene Sommer - Klimaschutz noch das wichtigste Thema auf der Agenda, so ist es jetzt auf Platz vier abgerutscht. Vorne stehen Friedenssicherung, soziale Sicherheit und Zuwanderung.
Wie sehr der Klimaschutz in den Jahren der Ampelregierung zum polarisierenden Thema geworden ist, zeigt die Antwort der Befragten zu diesem Thema: Die Staaten der EU hatten beschlossen, dass es ab 2035 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor mehr geben soll. Das halten 69 Prozent der Befragten für falsch, die Anhängerschaften aller Parteien sprechen sich dagegen aus - mit Ausnahme der Grünen.
Liberale und Grüne könnten Stimmen verlieren
Auch wenn die meisten Wählerinnen und Wähler auf die Bundespolitik schauen, geht es tatsächlich um etwas ganz anderes: um die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Hier deuten die Umfragen aus den Mitgliedsländern darauf hin, dass europaweit Liberale und Grüne Mandate verlieren könnten. Im Gegenzug könnten die Parteien gewinnen, die dem rechten Spektrum zuzuordnen sind und deren Politik von konservativ über national orientiert bis ins Rechtsextreme reicht. Nach den bisherigen Schätzungen handelt es sich dabei aber nicht um einen "Rechtsruck", sondern um eine Verschiebung, die etwa fünf Prozent der 720 Mandate ausmachen könnte. Damit würde sich ein Trend fortsetzen, der auf europäischer Ebene seit der Zeit der Osterweiterung der EU 2004 zu beobachten ist.
Die grundlegenden Fragen der europäischen Politik beantwortet weiterhin die große Mehrheit der Deutschen sehr eindeutig: Mehr als zwei Drittel wollen eher mehr als weniger gemeinsame Politik in Europa. Jeweils über 70 Prozent sind überzeugt, dass die EU generell für mehr Sicherheit sorgt, dies besonders in Krisenzeiten, und dass eine Gemeinschaft besser auf globale Probleme reagieren kann als ein Staat das alleine tun kann.