EU-Staatenlenker treffen sich in Ypern Ein Gipfelort gegen das Vergessen
Die Staats- und Regierungschefs treffen sich zum EU-Gipfel im belgischen Ypern, wo an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert wird. Ein Besuch in der Stadt zeigt, warum der Ort gut gewählt ist.
Seit mehr als 80 Jahren ertönt jeden Abend "The Last Post" am Mahnmal Menenport in Ypern. Es ist das Hornsignal für die Gefallenen des britischen Commonwealth im Ersten Weltkrieg. Im Kriegsmuseum in Flanders Fields erforscht Kurator Piet Chielens, was der Erste Weltkrieg aus der reichen Tuchhändlerstadt Ypern gemacht hat.
Von Herbst 1914 bis 1918 liegt die Frontstadt unter Feuer. Danach steht nichts mehr. "Angeblich konnte ein Reiter auf einem Pferd die ganze Stadt überblicken", sagt Chielens. "Wenn man alte Fotos anschaut, stimmt das sicher. Die Steine der Kathedrale sind nicht älter als 90 Jahre, die Steine der Tuchhalle, in der wir hier sitzen, sind 50 bis 60 Jahre alt."
"Erinnerung lebendiger als anderswo in Europa"
Deutsche Truppen haben Belgien in zwei Weltkriegen überrannt. Die Erinnerung an den ersten ist im Land besonders präsent, sagt der frühere Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft, Karlheinz Lambertz. "In Belgien ist der Erste Weltkrieg noch sehr lebendig in der kollektiven Erinnerung. Viel mehr als anderswo in Europa", sagt Lambertz. "Das hängt auch mit der besonderen Härte zusammen, die dieser Krieg hier hervorgebracht hat. Viele sehen auch in der Entwicklung während des Ersten Weltkriegs die Basis für die Entwicklung danach."
Das bestätigt auch Kurator Chielens: "Vor dem Krieg gehörte Belgien zu den weltweit führenden Industrienationen. Diesen Status hat es nach dem Krieg und bis heute nicht wiedererlangt. Es hat unter dem Krieg sehr gelitten." Das gelte für das ganze Land. Trotzdem erinnerten sich Flamen und Wallonen unterschiedlich an den Großen Krieg, sagt Chielens.
Ein moderner Wallfahrtsort
In Westflandern kommt im Herbst 1914 der deutsche Vormarsch Richtung Frankreich zum Stehen. Deutsche und alliierte Soldaten graben sich dreieinhalb Jahre lang ein: Stellungskrieg, Riesenschlachten um winzige Geländegewinne, der Einsatz von Giftgas. Ein Trauma, das in Ypern noch nach hundert Jahren nachwirkt. "Ypern ist ein moderner Wallfahrtsort geworden", sagt Bürgemeister Jan Durnez. "Eine Stadt, die völlig zerstört war und rücksichtsvoll wiederaufgebaut wurde, mit großem Respekt vor den Kriegsopfern. Jetzt wollen wir das Modell einer Friedensstadt vermitteln."
Die Westfront verläuft von der belgischen Kanalküste bis zur Schweizer Grenze, direkt an Ypern vorbei. Mehrmals versuchen deutsche Truppen, die Stadt einzunehmen. 1917 setzen sie großflächig Giftgas ein, die Alliierten danach auch. Der zweite Name für das giftige Senfgas lautet Yperit.
Ein Drittel mehr Besucher
Die Besucher kommen besonders zahlreich in diesem Jahr nach Ypern, weil sich der Beginn des Großen Krieges zum hundertsten Mal jährt. Ein Drittel mehr Besucher, ausgebuchte Hotels, sagt Bürgermeister Durnez: "Vielen ist ganz bewusst, was sie hier besuchen. Das ist kein Vergnügungspark, das ist eine Region der Erinnerung mit über 150 Friedhöfen, mit Wunden in der Landschaft, mit vielen Menschen, die gestorben sind, während sie Werte wie Demokratie und Freiheit verteidigten."
Heute ist Ypern eine malerische Kleinstadt mit der Sankt-Martins-Kathedrale und der Tuchhalle, mit Cafes und Kneipen, mit einem weiten Marktplatz und Kopfsteinpflaster auf den Straßen. Eine Stadt, die in der Vergangenheit lebt - und von ihr: Ein Laden verkauft Bildbände über die Weltkriege. Ein Geschäft heißt Tommy’s Souvenirs. In einem Shop verspricht ein Schild: "Wir nehmen auch britische Pfund."
Viele der Toten waren noch Kinder
Viele Besucher kommen aus dem englischsprachigen Ausland. 550.000 Soldaten sind in der Region gefallen, fast die Hälfte waren Soldaten aus dem britischen Commonwealth. Tausende liegen auf dem Friedhof Tyne Cot begraben, zehn Kilometer östlich von Ypern. Aus Lautsprechern im Boden ertönen dort Namen und Alter: Briten, Australier, Neuseeländer, Kanadier - viele waren fast noch Kinder. Besucher sind bewegt.
"Es muss für alle Zukunft klar sein, dass so etwas nie wieder vorkommt und dass man alles tut, um sich zu einigen", sagt der Bürgermeister. "Das ist Europas Stärke: Dass man es nach dem Zweiten Weltkrieg endlich geschafft hat, gemeinsam Lösungen zu finden. Das sieht man hier in dieser Region besonders gut."
"Wir vergessen, wie nützlich die europäische Einigung ist"
Aber diese Verdienste des geeinten Europas seien nicht selbstverständlich. Man müsse sie wertschätzen, verlangt Museumskurator Chielens. "Ich glaube, wir sind durch die Geschichte verwöhnt und wir vergessen, wie nützlich das Konzept der europäischen Einigung ist, wenn es darum geht, Frieden zu bewahren."
Dass der EU-Gipfel in der Friedensstadt Ypern stattfindet, ist ein Zeichen: Europa darf nicht vergessen, aus seiner Geschichte zu lernen.