Interview zum Westbalkan-Gipfel "Der Glaube an die EU geht verloren"
Führende EU-Länder wollen auf einem Gipfel die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit sechs Westbalkan-Staaten vertiefen. Die Kooperation sei dringend nötig, meint der Südosteuropa-Experte Bieber. Denn die Anziehungskraft der EU habe nachgelassen, was die Stabilität der Region gefährden könnte.
tagesschau.de: Wenn man die einstigen Erwartungen der Länder Südosteuropas an die Europäische Union zur Zeit unmittelbar nach Ende des Jugoslawienkrieges vergleicht mit der Zeit heute - was hat sich denn da grundlegend geändert?
Bieber: In den frühen 2000er Jahren herrschte eigentlich die Hoffnung, dass die Länder bald der Europäischen Union beitreten könnten. Natürlich spielten die EU-Regierungschefs immer mit neuen Daten und sagten: "2005, 2008, 2010" - und so schob es sich immer weiter nach hinten.
Aber man glaubte vor zehn, 15 Jahren noch, dass man eigentlich relativ zügig der Europäischen Union beitreten könnte. So wie es Kroatien ja tatsächlich auch 2013 tat. Und dass die anderen Länder schnell hinterher kommen würden und damit auch die Idee der Konvergenz, dass man sich also wirtschaftlich und politisch dem Rest Europas annähert und die Isolation, die eigentlich diese Länder geprägt haben, durchbrechen könnte.
Hätten Sie einen Bürger, eine Bürgerin dieser Länder vor 15 oder 17 Jahren gefragt, so hätten diese alle mit Sicherheit gesagt: "Also jetzt, 2017, wären wir sicherlich schon in der Europäischen Union".
tagesschau.de: Was sich ja nicht erfüllt hat…
Bieber: Das hat sich eben nicht erfüllt. Das ist der Unterschied zu heute, wo man sagen kann: Heute ist eine große Skepsis eingetreten, das heißt, die meisten Bewohner der Region glauben eben nicht mehr an einen Beitritt.
Es gab vor kurzem eine Umfrage in der ganzen Region, wo über ein Drittel der Bevölkerung in den meisten Ländern angegeben hat, sie glaubten, nie der EU beitreten zu können. Die meisten wollen das zwar, aber sie glauben mittlerweile nicht mehr daran. Weder an die Versprechen der EU, noch an die Versprechen ihrer eigenen Politiker, dass das jemals der Fall sein wird.
tagesschau.de: Hat denn die Flüchtlingskrise die EU-Skepsis insgesamt in den Ländern Südosteuropas befördert?
Bieber: Ich glaube, die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass die EU schwach ist. Ich glaube, das war für viele Menschen in der Region ein Schock; zu sehen, wie schwach und wie uneinig die Europäische Union war und wie auch einzelne Mitgliedstaaten wie beispielsweise Ungarn sich ausdrücklich gegen die Linie der Europäischen Union gestellt haben.
Auch, dass die Lösung - wenn man das als Lösung bezeichnen kann - wiederum nicht von der Europäischen Union, sondern wiederum von einzelnen Mitgliedstaaten mit einzelnen Nichtmitgliedstaaten getroffen wurde. Auch das hat gezeigt, dass die Europäische Union schwach ist. Und zuletzt: Man sieht Flüchtlinge, die aus Griechenland raus fliehen, um in andere EU-Länder zu gelangen. Aus einem EU-Land wie Griechenland, das vor der Wirtschaftskrise auch immer ein Modell gewesen war!
Wenn Sie in der Region gefragt hätten, dann hätten Ihnen viele gesagt haben: Ja, wir können vielleicht nicht Deutschland werden, aber Griechenland können wir schon sein - als Balkanstaat in der Europäischen Union, dem es besser geht, der eine gewisse Perspektive hat. Und jetzt sieht man eben: Griechenland hat wirtschaftlich durch die Krise stark gelitten und ist auch wiederum Objekt der Politik geworden, gewissermaßen. Man sieht, die Flüchtlinge, die dort stranden und auch möglichst schnell wieder weg wollen. All das hat dem Bild der Europäischen Union schon nachhaltig geschadet.
tagesschau.de: Was kann man sich denn jetzt vom Westbalkangipfel in Triest erwarten?
Bieber: Der erste Gipfel hat sehr viel gebracht und auch die Folgegipfel mit der Idee, dass man einen institutionalisierten Rahmen gefunden hat, wo sich alle Regierungschefs immer wieder treffen. Das ist eigentlich seit dem ersten Gipfel in Berlin sehr üblich geworden. Das war vorher eher unüblich, dass sich alle, auch Minister, häufig trafen und austauschten. Das heißt, die Kommunikation in der Region hat sich eindeutig verbessert. Und daraus entstehen Initiativen.
Es gab auch eine Deklaration über die Lösung bilateraler Konflikte, die in Wien vor zwei Jahren unterzeichnet wurde. Das heißt, es gibt einige Initiativen, die die Kompromissbereitschaft unterstreichen und den Dialog zwischen den Ländern. Das ist ein positives Ergebnis. Es sollte auch ein Signal jener Mitgliedstaaten sein, die sich daran beteiligen, gerade Deutschland Österreich, Italien als die größeren Unterstützer dieses Prozesses; zu sagen, es geht weiter mit der EU-Integration, also eine Art Unterstützung, ein klares Bekenntnis zu diesem Prozess.
Natürlich muss man sich jetzt überlegen: Wie geht’s weiter? Wie kann man mehr daraus machen? Ich glaube, es sollte mehr Zwischenschritte geben, nicht nur den großen Gipfel einmal im Jahr, wo dann natürlich auch ein bisschen Show dabei ist. Sondern man sollte schauen, dass dazwischen noch mehr erreicht wird. Dass man auch die Versprechen, die in den vergangenen Jahren gemacht wurden, stärker überwacht und überprüft, ob die auch eingelöst werden. Man sollte also sehr genau darauf achten: Wie viel ist da Mogelpackung und wie viel ist da wirkliche Substanz? Denn es besteht schon die Gefahr, dass bei solchen Gipfeln oftmals alter Wein in neuen Flaschen verkauft wird.
Das Interview führte Michael Mandlik, ARD-Studio Wien.