Multimedia-Dossier Das Geschäft mit Hoffnung und Verzweiflung
Die Schlepper bieten an, Grenzen auf dem Weg nach Europa zu überwinden - meist für sehr viel Geld. Ihr Geschäft machen viele von ihnen mit der Hoffnung und Verzweiflung der Flüchtlinge. Unsere Korrespondenten haben Flüchtlinge und Schlepper, Helfer und Entscheider getroffen.
Überfahrten ins Ungewisse
Mehr als 100.000 Menschen sind seit Jahresbeginn Richtung Europa geflohen - getrieben von Krisen und Kriegen in ihren Heimatländern. Um Europa zu erreichen, nutzen die Flüchtlinge unterschiedliche Routen. Bei dem Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen, sind allein seit Januar mehr als 1800 Menschen ums Leben gekommen.
Für viele Schlepper ist die Flucht ein gutes Geschäft: Sie setzen die Verzweifelten oft in überfüllte, längst kaputte Boote oder lassen sie bei ihrer Überfahrt allein. Eine Katastrophe. ARD-Korrespondentinnen und Korrespondenten haben Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa getroffen: Zum Beispiel Rahima in Griechenland, Kasem in der Türkei oder Abu Nimr in Ägypten. Unsere Reise beginnt in Libyen.
Libyen: "Umkehren - das ist unmöglich"
Angst? Die bräuchten sie nicht zu haben, sagte der Schlepper zu Ahmad und anderen Flüchtlingen, die sich gemeinsam mit ihm auf den Weg nach Europa gemacht. Doch auf dem überfüllten Boot sei die Angst allgegenwärtig gewesen, erzählt er: "Der Weg ist klar: Entweder du kommst an oder du stirbst", sagt Ahmad.
Von Sabine Rossi, ARD-Hörfunkstudio Kairo
Ahmad flüchtete 2013 vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Bis er in Europa, in Deutschland ankam, verging ein Jahr. Sein Plan: Von Zuwara im Westen Libyens wollte er nach Europa übersetzen.
Zwei Anläufe brauchte er dafür - im Vergleich zu anderen Flüchtlingen ging das schnell. "Das erste Mal haben wir 25 Tage auf unsere Überfahrt gewartet. Jeden Tag haben sie uns einen anderen Grund genannt, warum es noch nicht losging. Das Essen, das sie uns gaben, reichte um zu überleben, mehr nicht. Wasser hatten wir nur wenig. Und die Toiletten…", sagt Ahmad.
Dann war es soweit: Mitten in der Nacht brach die Gruppe auf. Alle halfen sich gegenseitig: Ahmad trug ein vier Jahre altes Mädchen über den Strand, watete mit ihr durch die Wellen bis zum Schlauchboot, das sie auf das Meer zu einem größeren Boot brachte. In seiner Gruppe seien sie etwa 150 gewesen - alle aus Syrien, erinnert sich Ahmad. An Bord des Holzbootes waren 450 Menschen, vielleicht auch mehr.
"Entweder du kommst an oder du stirbst"
Erst auf dem Boot führten mehrere Schlepper ihre Flüchtlingsgruppen zusammen. "Der Schlepper hatte uns gesagt, dass das Boot gut sei, dass nur wenige Flüchtlinge darauf fahren würden. Wir sollten keine Angst haben. Alles sei sicher und in bester Ordnung", berichtet Ahmat: "Als wir ankamen, haben wir gemerkt, dass das alles Lügen waren. Es gab Leute, die versucht haben, umzukehren, weil sie Angst hatten." Doch sie seien daran gehindert worden. "Umkehren, das ist unmöglich. Der Weg ist klar: Entweder, du kommst an oder du stirbst", sagt Ahmad.
Routen zurück nach Hause gibt es für die Flüchtlinge nicht. So wird Libyen zur Falle, sagt Sarah Khan vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen: "Es sind große Netzwerke, die die Menschen an Bord der Schiffe drängen - auch wenn die ihre Meinung ändern. Die Menschen werden einfach auf ein Boot gesetzt, auch wenn sie nicht wollen. Es gibt keine Netzwerke, die sie wieder nach Hause zurückbringen. Der Weg geht nur nach Norden."
Zunächst auch für Ahmad. Nach zwei Stunden auf dem offenen Meer sei der Motor ausgegangen. Ohne zu wissen, wo sie waren, seien sie weiter getrieben, erzählt er. Dann kamen Fischer: "Sie sagten, sie würden uns helfen, aber nur gegen Geld. Sie haben 20.000 Dollar verlangt, um uns in internationale Gewässer zu bringen. Wir hatten Angst, also waren wir einverstanden und haben bezahlt", erzählt Ahmad.
Low-Budget-Route nach Europa
In Libyen verdienen viele am Geschäft mit der Flucht. Der Schlepper verlangt 600 bis 1000 Dollar für die Fahrt von Libyen nach Italien. Es ist die Low-Budget-Route nach Europa, woanders zahlen Flüchtlinge mehr. Der Preis richtet sich nach dem Herkunftsland: Für Syrer ist es teurer als für Afrikaner. Denn die Schlepper wissen, dass bei ihnen mehr zu holen ist.
Inzwischen nehmen immer weniger Syrer die Route über Libyen. Zu gefährlich ist die Reise durch das Bürgerkriegsland. Der Bürgerkrieg in Libyen hat das Geschäft verändert: Die Schlepper verlangen das Geld bar - schon vor der Abfahrt. Eine Garantie in Europa anzukommen, gibt es nicht. "Du hast deine Chance - entweder es klappt oder es klappt nicht. Das hängt von deinem Glück ab", sagt Ahmad.
Beim ersten Anlauf hatte Ahmad kein Glück. Das Boot wurde gestoppt und zurück nach Libyen gebracht. Fünf Tage wurden Ahmad und die anderen Flüchtlinge von Bewaffneten festgehalten. Geschlagen wurden sie in dieser Zeit nicht. In anderen Abschiebelagern Libyens sieht es hingegen anders aus: Mehrere hundert Flüchtlinge harren dort zusammengepfercht aus, hocken auf dem Boden, ohne Kissen, ohne Decken, ohne medizinische Versorgung. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen, dass Flüchtlinge misshandelt und geschlagen, Frauen vergewaltigt würden.
Ein neuer Schlepper für Ahmad
Ahmad musste versprechen, dass er keine weiteren Fluchtversuche unternimmt. Dann durfte er gehen. Sein erster Anruf galt einem neuen Schlepper. Wieder zahlte er 1000 Dollar, wieder wartete er mit Hunderten anderen in einer viel zu kleinen Wohnung, wieder riskierte er, auf dem Mittelmeer sein Leben zu verlieren.
Auf dem Boot mussten sie zwölf oder 13 Stunden auf einem Bein stehen, erzählt Ahmad: "Wir mussten die ganze Überfahrt auf demselben Fleck im Boot bleiben."
Doch diesmal kam die italienische Küstenwache. Sie nahm Ahmad und die anderen an Bord.
Ob er seine Frau, die noch in Syrien ist, auf demselben Weg nach Deutschland holen würde? "Niemals", sagt Ahmad: "Ich habe diesen Weg auf mich genommen, um ihr zu helfen. Damit sie sicher nach Deutschland gelangt - auf legalem Weg."
Türkei I: "Wir sind doch eine Familie"
Viele Familien werden bei der Flucht auseinandergerissen. Während Ahmad mittlerweile in der Nähe von Stuttgart lebt, ist seine Frau weiter in Syrien. In Istanbul wartet Kasem mit seinen Brüdern darauf, endlich zu seiner Mutter zu dürfen. Sie lebt bereits als anerkannte Asylberechtigte mit dem jüngsten Sohn in Mönchengladbach.
Von Thomas Bormann, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Der Krieg in Syrien hat Familie Toama auseinandergerissen: Die Mutter lebt mit ihrem jüngsten Sohn in Mönchengladbach. Ihre drei älteren Söhne aber harren noch in einer kleinen Wohnung in Istanbul aus. Sie wünschen sich nur eines: Sie wollen so schnell wie möglich zu ihrer Mutter nach Deutschland.
Im März hatten sich die drei Brüder beim deutschen Generalkonsulat in Istanbul einen Termin besorgt, um ihren Antrag auf Familiennachzug einzureichen, damit sie zu ihrer Mutter nach Mönchengladbach können: "Sie haben uns einen Termin im Februar 2016 gegeben", sagt Kasem Toama, der älteste der drei Brüder.
"Unfassbar"
Er ist 19, die anderen beiden sind 13 und 16 Jahre alt. Sie sind völlig auf sich allein gestellt in Istanbul. Dass sie noch so lange warten müssen, können sie nicht fassen. Danach kann es wiederum einige Wochen dauern, ehe das deutsche Generalkonsulat das Visum ausstellt.
Täglich telefonieren sie mit ihrer Mutter in Mönchengladbach. Sie ist verzweifelt: "Man hatte mir gesagt, innerhalb von drei Monaten könnte ich meine Kinder nachholen", sagt die Mutter: "Es ist so bitter für mich, ohne meine Söhne zu sein. Wir sind doch eine Familie!"
Konsulat überlastet
Beim Auswärtigen Amt in Berlin heißt es, die Bundesregierung tue alles, was zu leisten und zu verantworten sei, damit Familienangehörige von Flüchtlingen so schnell und so einfach wie möglich nachgeholt werden können. Allerdings sind die deutschen Konsulate in der Türkei offenbar völlig überlastet. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes liegen in den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei mehr als 10.000 Anträge von syrischen Flüchtlingen, die zu Angehörigen nach Deutschland nachziehen wollen. Eine Wartezeit von knapp einem Jahr ist demnach üblich.
Für Kasem und seine Brüder ist die Wartezeit vor allem zermürbend. Er findet keine Arbeit, seine Brüder können nicht zur Schule gehen. "Ich kann nichts tun", sagt Kasem. Dabei würde er so gerne studieren und Zahnarzt werden - wie sein Vater, der vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, noch vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien.
Kasem weiß, dass in Istanbul Schlepper ihre Dienste anbieten: Für ein paar Tausend Euro bringen sie Flüchtlinge schwarz über die Grenze - ohne Wartezeit. Doch er weiß auch, dass die Boote meist schlecht ausgerüstet sind und schon viele Menschen dabei gestorben sind. Schlepper - das kommt für ihn nicht in Frage.
Endlich wieder vereint?
Seine Mutter hofft, dass es auch einen legalen Weg gibt, dass ihre Söhne schneller zu ihr nach Mönchengladbach kommen: "Ich will doch nur, dass meine Familie bei mir ist", klagt sie. Das Auswärtige Amt hat das Personal in den deutschen Auslandsvertretungen aufgestockt, spricht aber auch von einer dramatisch wachsenden Nachfrage nach Visaterminen.
Das alles ist kein Trost für Kasem. Er hofft, dass er nicht wirklich bis zum 26. Februar 2016 warten muss, bis er den Visumantrag für sich und seine Brüder abgeben kann. Er wünscht sich vom deutschen Generalkonsulat in Istanbul einen Termin, der früher liegt. "Das ist alles", sagt Kasem.
Türkei II: "Ohne Schlepper haben wir keine Chance"
Für Kasem kommt ein Schlepper nicht infrage. Andere hingegen vertrauen sich einem Schlepper an. Im Jahr 2014 verzeichnete die europäische Grenzschutzagentur Frontex einen neuen Höchststand: Die Grenzbeamten registrierten mehr als 280.000 illegale Grenzübertritte - doppelt so viele wie im Jahr davor. Davon profitieren die Schlepper wie die türkische Hafenstadt Mersin zeigt.
Von Thomas Bormann, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Mersin ist eine quirlige Hafenstadt an der türkischen Mittelmeerküste. Hier bieten Schlepper ihre Dienste an, hier wartet ihre Kundschaft. Syrien ist nicht weit. Früher fuhr zweimal die Woche eine Fähre von Mersin aus in die syrische Hafenstadt Latakia, keine 170 Kilometer entfernt. Heute haben etwa 50.000 Syrer in Mersin Zuflucht vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat gefunden.
Doch nicht alle Syrer hier sind Flüchtlinge. Einige sind Geschäftsleute, sie arbeiten im Schlepper-Geschäft und bieten ihren Landsleuten Passagen nach Europa an.
Handynummern der Schlepper
Die Handynummern der Vermittler sprechen sich unter den syrischen Flüchtlingen schnell herum. Ruft man sie an, preisen sie die Tour wie ein Sonderangebot an: "Es kostet 4800 Dollar pro Person", sagt ein Vermittler am Telefon. "Normalerweise nehmen wir zwischen 5000 und 5500 Dollar. Das Schiff ist 77 Meter lang - ein Frachtschiff, das bei jedem Wetter in See stechen kann. Es kann bis zu 1000 Passagiere aufnehmen. Der Kapitän wird das Schiff nicht verlassen, keine Sorge. Der bekommt sein Geld erst, wenn alle Flüchtlinge sicher in Italien angekommen sind."
Das Schiff, für das der Schlepper nun 1000 Passagiere anwerben will, liegt vermutlich weit draußen vor Anker, irgendwo außerhalb der türkischen Hoheitsgewässer. Ein gerade noch fahrtüchtiges, 77 Meter langes Frachtschiff ist auf dem Gebrauchtmarkt für weniger als eine Million Dollar zu haben.
Die Schlepper kalkulieren ein, dass das Schiff nach der Fahrt von der italienischen Küstenwache beschlagnahmt wird. Sie machen dennoch genügend Profit: Wenn 1000 Passagiere jeweils 4800 Dollar bezahlen, sind das insgesamt 4,8 Millionen Dollar. Zieht man den Preis von einer Million Dollar für das Schiff ab, bleiben 3,8 Millionen Dollar Profit.
Im Schutz der Dunkelheit
Die Flüchtlinge werden in kleinen Gruppen auf Fischerbooten zum Frachtschiff gebracht. Nachts, im Schutz der Dunkelheit. Manchmal aber erwischt die türkische Küstenwache ein solches Fischerboot - wie in diesem Fall, den die Küstenwache dokumentiert hat: Der Hubschrauberpilot meldet an seine Zentrale: "Seit zehn Minuten verfolgen wir ein Fischerboot namens 'Asia'. Es sind Menschen an Bord, vermutlich Flüchtlinge… viele Menschen."
Der Hubschrauberpilot lotst das Schnellboot der türkischen Küstenwache heran. Einsatzkräfte entern das Fischerboot. Kinder an Bord fangen an zu schreien. Ein Offizier gibt dem Kapitän des Fischerbootes über Funk einen klaren Befehl: "Eine Weiterfahrt ist Ihnen untersagt. Bleiben Sie in den türkischen Hoheitsgewässern! Ihr Schiff ist hiermit von der türkischen Küstenwache beschlagnahmt."
Hintermänner arbeiten im Verborgenen
Der Kapitän des Fischerbootes kommt wegen Menschenschmuggels vor ein türkisches Gericht. Die Hintermänner aber, die Schlepper in Mersin, arbeiten weiter im Verborgenen. Sie haben zumeist nicht einmal ein schlechtes Gewissen, im Gegenteil: Sie sehen sich als Dienstleister, weil sie ihren Landsleuten eine Flucht nach Europa ermöglichen. Einen legalen Weg nach Europa gibt es für die meisten Syrer nicht.
Marokko: "Wer noch Geld hat, kann sich Rettungswesten kaufen"
Mehr als 3,9 Millionen Syrer sind bereits aus ihrer Heimat geflohen. Auch aus Afrika fliehen die Menschen nach Europa. Sie versuchen es zum Beispiel über Marokko und die spanischen Enklaven Mellila und Ceuta. Laut Frontex kamen im Jahr 2014 mehr als 7800 Menschen auf diesem Weg. Sie kommen aus allen Ländern Westafrikas und haben bereits eine lange Reise durch die Sahara hinter sich.
Von Alexander Göbel, ARD-Hörfunkstudio Rabat
Viele Menschen ertrinken nicht nur, sagt der senegalesische Regisseur Moussa Touré: "Sie sterben an ihrem Traum". Mit seinem Film "La Pirogue" hat Touré vor ein paar Jahren beim FESPACO Filmfestival in Burkina Faso für viel Aufsehen gesorgt. Er zeigt schonungslos das Geschäft der Schlepper, und dann den Überlebenskampf der Menschen, die auf Booten nach Europa unterwegs sind.
"Sechs oder sieben Tage sind die Leute im Schnitt unterwegs - wenn sie denn jemals ankommen", sagt Touré. Sie seien ohne Essen, ohne Wasser: "Sie denken nicht an ihre Zukunft, sondern daran, dass sie sich gerade umbringen. Darum geht es in meinem Film. Wir sitzen tatsächlich mit diesen Menschen im Boot." Der Zuschauer müsse sich mit dem Existenziellen auseinandersetzen. Er bekomme nicht nur ein Echo, er sehe sich selbst.
Die Wirklichkeit? Noch viel schlimmer
Harouna hat den Film gesehen und sagt: "Die Wirklichkeit ist noch viel schlimmer." Im heruntergekommenen Viertel La Féraille, im Osten der marokkanischen Hafenstadt Tanger, arbeitet der Senegalese für eine kleine spanisch-marokkanische Hilfsorganisation. Er kümmert sich um die "sans papiers", die Menschen ohne Papiere. Hier sind es Afrikaner, die schon eine lange Reise durch die Sahara hinter sich haben. Sie leben hier illegal und warten auf den Absprung nach Europa.
"Hier haben wir Kleidung, wir bekommen Spenden… Diese Schubladen hier waren alle voll. Wir haben Jacken, Babysachen, Babynahrung und so weiter", erzählt Harouna. Die Leute kämen hierher und sie verteilten, was sie hätten. "Wir sind dafür da, damit sie besser überleben."
Europa - nur 14 Kilometer entfernt
Harouna will, dass die Migranten bleiben. Denn er kennt zu viele furchtbare Geschichten von Menschen, die den Weg übers Mittelmeer nicht überlebt haben. Immer wieder hat er Freunde beerdigen müssen, die mit ihrem Schlauchboot gekentert sind. Sie wollten alle nach Tarifa, sagt Harouna. Die spanische Küste - Europa - ist von Tanger nur 14 Kilometer entfernt.
Touristen brauchen mit der Schnellfähre nur eine gute halbe Stunde und zahlen 50 Euro. Bootsflüchtlinge bereiten ihre Reise oft monatelang vor - und zahlen Schleppern hohe Summen für eine lebensgefährliche Fahrt ins Nichts.
250 Euro Anzahlung
Der Kongolese Emmanuel Kabongo kennt die Methoden der so genannten "Reisebüros" genau: "Eine organisierte Überfahrt kostet mindestens 1500 Euro pro Person, der Preis geht rauf bis 5000 Euro, je nach Organisation und Ausstattung der Boote." Dabei seien es meistens ungefähr 60 Menschen auf einmal. "Den Treffpunkt am Strand, den kennen nur die Scouts, die bekommen 250 Euro als Anzahlung pro Person. Das sind die Leute, die den Passagieren dann sagen, wann und wo genau es losgeht. Wer noch Geld hat, kann sich dann noch Rettungswesten kaufen", sagt Kabongo .
Unter den organisierten Schleusern seien eine Menge marokkanischer Fischer und Bauern aus dem Rifgebirge, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben könnten, sagt Kabongo. Für ihn ist klar: Sie müssen Kontaktleute bei der marokkanischen Polizei und der Marine haben. Ohne die Hilfe von korrupten Behördenmitarbeitern sei dieses Geschäft gar nicht machbar.
"Je nach Preis sind es Schlauch- oder Holzboote mit oder ohne Kapitän. Die Schlepper bleiben in Marokko zurück. Manche von ihnen rufen dann von anonymen Nummern aus das Rote Kreuz an oder die spanischen Behörden teilen mit, dass ein Boot unterwegs ist", erzählt er. Meistens aber seien die Migranten sich selbst überlassen, irrten herum. "Ich weiß von einer Gruppe, die dachte, sie sei in Europa, dabei war sie in Algerien gelandet. Wer mehr zahlt, hat vielleicht GPS und ein Mobiltelefon, um bei den Spaniern selbst die Seenotrettung anzurufen, bevor es zu spät ist." Aber oft bringe auch der letzte Hilferuf nichts mehr.
Brüssel: "Gemeinsame europäische Antwort finden"
Ein letzter Hilferuf - in der europäischen Politik stößt der auf unterschiedliches Gehör. 90 Prozent der Flüchtlinge kommen in nur acht EU-Ländern unter. Eine Aufteilung nach Quote - für einige Länder keine Option. Eine gemeinsame europäische Antwort - bislang Fehlanzeige.
Von Karin Bensch, ARD-Hörfunkstudio Brüssel
Wenn man auf einer digitalen Europakarte, die Länder wegklickt, die gegen die Verteilung von Flüchtlingen mithilfe einer Quote sind, schrumpft die EU ziemlich zusammen. Die Gründe der Gegner sind unterschiedlich. Portugal und Spanien zum Beispiel verweisen auf ihre hohe Arbeitslosenquote. Lettland fühlt sich noch nicht bereit. Bislang hat das baltische Land nur etwa einhundert Asylbewerber anerkannt, mit der geplanten Quote kämen fünf Mal so viele.
"Wenn wird zurück in unsere Geschichte schauen, haben wir schon sehr viele Migranten aus sowjetischer Zeit bei uns. Deshalb ist das ein sensibles Thema in Lettland", sagt der lettische Innenminister Koslovskis. In Lettland haben rund 30 Prozent der Einwohner russische Wurzeln, denn Lettland wurde im Zweiten Weltkrieg von Russland überfallen und eingenommen.
Quote als Zukunftsmodell
Auch Polen war anfangs gegen den Vorschlag der EU-Kommission, Flüchtlinge mithilfe einer festen Quote in der EU zu verteilen. Zunächst soll es nur um 40.000 Menschen, vor allem aus Syrien und Eritrea gehen, die bereits in Griechenland und Italien sind. Aber die Quote soll ein Zukunftsmodell werden. Sie rechnet ein, wie groß und reich ein Land ist, wie viele Menschen dort arbeitslos sind und wie viele Flüchtlinge das Land schon aufgenommen hat.
Polen zum Beispiel hat im vergangenen Jahr gerade einmal 115 Syrer als Flüchtlinge anerkannt. Mit der neuen Quote bekäme das Land deutlich mehr Menschen zugeteilt. "Polen hat es sehr eindeutig gesagt, und steht damit keineswegs allein in der EU, dass solche Quoten für uns unannehmbar wären", sagte die polnische Regierungschefin Ewa Kopacz. In Polen finden im Herbst Parlamentswahlen statt. Mehr Flüchtlinge aufnehmen? Das käme bei vielen Wählern wohl nicht besonders gut an.
Und dennoch habe Polen seine Haltung geändert, sagen Diplomaten. Das Land schwenke über zu den Befürwortern der Quote. Zu denen gehören vor allem Italien, Schweden, Frankreich und Deutschland. Länder, die bereits viele Flüchtlinge aufgenommen haben und auf Entlastung hoffen.
"Gemeinsame europäische Antwort"
"Angesichts der Flüchtlingskatastrophe in Afrika, in Syrien, im Irak, mit all dem, was auch im Mittelmeer geschehen ist, wenn man das alles betrachtet, dann ist es wichtig, dass wir darauf eine gemeinsame europäische Antwort finden", sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Eine gemeinsame europäische Lösung, die es bislang noch nicht gibt. 90 Prozent der Flüchtlinge kommen in nur acht EU-Ländern unter. Und dass, obwohl immer mehr Menschen nach Europa fliehen - durch Krieg, Krisen und Armut.
Ska Keller, Europaabgeordnete der Grünen, findet es eine Katastrophe, wie unsolidarisch derzeit über die Verteilung von Flüchtlingen in der EU diskutiert wird: "Es ist wirklich unsagbar, dass sich jetzt einige Mitgliedsstaaten hinstellen und diesem Plan verweigern wollen."
Großbritannien und Irland machen nicht mit beim Schengener Abkommen, das Grenzkontrollen abgeschaffte und Reisefreiheit garantiert. Dänemark unterzeichnete das Abkommen zwar, sicherte sich jedoch Sondervereinbarungen. Es bleiben 25 EU-Länder. Ein Drittel von ihnen ist derzeit gegen eine feste Aufnahmequote. Ein weiteres Drittel ist unentschieden. Die Befürworter bekommen als noch keine Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen. Die wäre aber notwendig.
"Die Entscheidung darüber, ob wir voran kommen, die wird zwar in Brüssel gefällt, aber nur geographisch", sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Das heißt: Ob die Quote kommt, und wie fest oder lose sie sein wird, wird in den europäischen Hauptstädten entschieden. Zum Beispiel in Madrid, Lissabon, Prag und Riga.
Ägypten: "Sie sammeln das Geld in Europa ein"
Im Jahr 2014 kamen die meisten Flüchtlinge in Richtung Europäischer Union aus Syrien. Abu Nimr ist aus Syrien geflohen, lebt mittlerweile in Ägypten. Für seine Frau und zwei seiner Töchter hat er eine Überfahrt nach Europa organisiert - mithilfe von Schleppern.
Von Sabine Rossi, ARD-Hörfunkstudio Kairo
Vor knapp zwei Jahren sind Abu Nimr und seine Familie nach Alexandria gekommen. In der karg eingerichteten Wohnung im Stadtteil "Sechster Oktober" serviert seine Tochter arabischen Kaffee. Der sei aus Syrien, sagt Abu Nimr stolz.
Der Stadtteil "Sechster Oktober" könnte auch "Klein-Damaskus" heißen. Die meisten Menschen kommen aus Syrien. In den Geschäften gibt es syrisches Gebäck, syrisches Schawarma, syrische Falafel. Alexandria ist die Drehscheibe für Schlepper und Schleuser in Ägypten. Wer das Geld nicht sofort bezahlen kann, bekommt einen Platz auf einem Boot auf Pump. "Meine Frau und die zwei Töchter haben das Geld für ihre Überfahrt geliehen", sagt Abu Nimr. Innerhalb eines Jahres müssen sie es zurückgeben.
Abzocke der Flüchtlinge
Für Abu Nimr selbst ist an eine Fahrt mit dem Boot nach Europa nicht zu denken. In seiner Heimat Syrien haben Unbekannte auf ihn geschossen. Nur knapp hat er überlebt, noch immer hat er Projektile im Körper. Wenn er lange spricht, fällt ihm das Atmen schwer. Diejenigen, die ihm und seiner Frau das Geld geliehen haben, seien wie er Syrer, sagt Abu Nimr. Und sie nehmen Zinsen, fügt er hinzu: "Wenn sie für dich 4000 Dollar bezahlen, musst du ihnen 5000 Dollar zurückgeben. Sie zahlen hier für dich und sammeln das Geld in Europa ein. Da haben sie Verwandte, um sicherzustellen, dass sie ihr Geld auch später bekommen."
Mit 5000 Dollar steht Abu Nimr in der Schuld seiner Gläubiger. Für seine Frau und die ältere Tochter musste er bezahlen. Die jüngste Tochter ist noch keine elf Jahre alt. Deshalb war ihre Überfahrt gratis.
Es sei ein ausgeklügeltes System, sagt Muhammad al-Kashef von der Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte. Für die Nichtregierungsorganisation berät er Flüchtlinge in Alexandria. Hin und wieder besucht er Abu Nimr: "Die Syrer bezahlen für die Fahrt nicht vorab. Sie hinterlassen das Geld bei einer dritten Person. Die gibt es erst weiter, wenn die Flüchtlinge an den Küsten Europas angekommen sind."
Makler aus Reihen der Flüchtlinge
Ein Bürgschaftssystem, mit dem der Schlepper auf langfristige Aufträge setzt: "Das Schleppernetz in Ägypten besteht aus einem Makler, der aus den Reihen der Flüchtlinge selbst kommt und unter ihnen lebt. Ihm kommen viele Aufgaben zu. Er schaut nach, wer fahren möchte", erzählt al-Kashef. Dann bringe er die Flüchtlinge mit den zuständigen Vermittlern zusammen. Für zehn Flüchtlinge, die der syrische Makler an die Schlepper vermittelt, erhalte er selbst einen Platz auf einem Boot, sagt Muhammad al-Kashef. Manch einer versuche so, seine Familie nach Europa zu schicken.
"Ich bin fast verrückt geworden"
Abu Nimrs Frau und die beiden Töchter haben sich von Alexandria aus auf den Weg nach Italien gemacht. Eine Überfahrt von Ägypten nach Griechenland ist nicht im Angebot, obwohl die griechische Küste erheblich näher ist.
Ihre Reise begann wenige Tage vor der Katastrophe vom 19. April. Im Fernsehen sah Abu Nimr die Berichte und hörte von den hunderten Toten vor der libyschen Küste. "Ich bin fast verrückt geworden. Mein Kopf war so schwer. Ich habe im Internet gesucht, auf Facebook, bis ich wusste, dass sie am Leben waren und dass es nicht ihr Boot war, das gesunken ist."
Griechenland I: "Hier ist niemand, der uns hilft"
Abu Nimr hat sich in Ägypten verschuldet, um seiner Familie eine Überfahrt zu bezahlen. An der griechisch-mazedonischen Grenze haben viele Flüchtlinge genau wie er kein Geld mehr. Sie mussten bereits Schlepper für den Weg von der Türkei nach Griechenland bezahlen. Nun bräuchten sie Geld, um einen neuen Schlepper zu bezahlen, der sie über die Grenze bringt.
Von Thomas Bormann, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Flüchtlinge aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan wandern durchs griechische Grenzdorf Idoméni. Lazaros Oulis hat hier einen kleinen Bauernhof. Es werden immer mehr Menschen, sagt er: "Viele kommen hier vorbei. Jeden Tag 100 oder 200. Sie wollen rüber nach Mazedonien und dann weiter nach Deutschland, das sagen die jedenfalls. Das sind so viele, das können wir in unserem Dorf gar nicht bewältigen. Wenn ich aus meinem Haus geh, dann stehen da ganze Familien und sagen: Helft uns, wir haben Hunger. Gebt uns ein oder zwei Euro, gebt uns Brot oder Käse!"
Der kleine Wald gleich hinter dem Dorf zieht sich hinüber bis ins Nachbarland Mazedonien. In diesem Wald harren die Flüchtlinge aus, bis es dunkel wird, wollen dann über die Grenze. "Nachts frieren wir. Wir haben keine Decken, wir haben so viele Probleme", sagt Moez, ein Flüchtling aus Afghanistan. Es gebe weder zu essen noch zu trinken. "Hier ist niemand, der uns hilft. Das ist ein großes Problem für uns", erzählt er. Sie wollten in andere Länder gehen, aber die mazedonische Polizei lasse sie nicht durch.
Warnschüsse der Grenzpolizei
Manchmal sind Schüsse zu hören. Es sind Warnschüsse von mazedonischen Grenzpolizisten. Jede Nacht nehmen mazedonische Grenzer etliche Flüchtlinge fest und schicken dann zurück über die Grenze nach Griechenland.
Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" hat in Axioupoli, der nächstgelegenen größeren Stadt, eine mobile Praxis aufgemacht. Hier hilft die australische Krankenschwester Danielle Ballantyne den Flüchtlingen: "Viele haben kleinere Verletzungen. Manche haben sich Blasen gelaufen, manche sind dehydriert, müssen dringend Wasser trinken. Die Leute sind das ja auch nicht gewohnt, kilometerweit zu marschieren. Sie wissen nicht, wo sie schlafen werden." Viele seien erkältet, weil sie unter freiem Himmel schlafen müssten.
"Geld haben die Flüchtlinge nicht mehr"
Die meisten der Flüchtlinge seien bislang junge Männer, aber jetzt kämen immer mehr Familien. "Ich denke, es werden sich auch immer mehr Ältere auf den Weg machen, die noch gut zu Fuß sind. Geld haben die Flüchtlinge, die hier im Norden Griechenlands gestrandet sind, nicht mehr", berichtet die Krankenschwester.
Die meisten sind seit Monaten unterwegs - quer durch den Nahen Osten, durch die Türkei und Griechenland. Ihre letzten Euro mussten sie den Schleppern bezahlen, die sie von der Türkei nach Griechenland geschleust hatten. "Aber hier brauchst Du wieder Schlepper", sagt ein Flüchtling, "damit Du von Griechenland rüber nach Mazedonien kommst - ohne Schlepper hast Du keine Chance."
Noch lange nicht am Ziel
Jede Nacht gingen sie an die Grenze und versuchten, rüberzukommen. "Aber die Polizei erwischt uns. Die Polizei hatte mich verhaftet und dann gesagt: Geh! Geh weg von hier!", erzählt Imal, ein junger Mann aus Afghanistan. Er will es trotzdem wieder versuchen, irgendwann nachts unerkannt über die Grenze nach Mazedonien zu kommen.
Dann ist Imal freilich noch lange nicht am Ziel. Er will zu Fuß weiter quer durch den Balkan ziehen, durch Serbien nach Ungarn und dann irgendwohin, wo er Arbeit findet und wo er sich ein neues Leben aufbauen kann. Vorerst aber ist seine Flucht in Idoméni zu Ende, dem kleinen Dorf an der griechisch-mazedonischen Grenze.
Griechenland II: "Wir wollen raus, wir haben nichts"
Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2015 erreichten nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen 48.000 Flüchtlinge illegal Griechenland. Das sind schon mehr als im gesamten Jahr 2014. Immer mehr Flüchtlinge kommen auf den Inseln an der griechischen Küste an.
Von Thomas Bormann, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
Erst Kinder, dann Frauen und zuletzt die Männer, befiehlt ein Offizier der griechischen Küstenwache den Flüchtlingen, die gerade von einem gekenterten Boot vor der Küste der Touristen-Insel Kos gerettet wurden. Kos, Samos, Chios, Lesbos - die griechischen Ägäis-Inseln liegen allesamt in Sichtweite der türkischen Küste. Schlepper bringen Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea, aus Afghanistan und anderen Ländern in Schlauchbooten vom türkischen Festland auf die griechischen Inseln, an manchen Tagen kommen 1000 Menschen. Viele müssen unter freiem Himmel schlafen, weil die Lager überfüllt sind.
Das frühere Hotel "Captain Elias" auf Kos ist ein solches Durchgangslager. Es stand leer, ist reif für den Abriss: Es sei sehr schlecht hier, sehr dreckig, sagt Imran. Er ist 21 Jahre alt, kommt aus Afghanistan. "Schlimm hier", stöhnt er.
Griechenland schafft es nicht, all die Flüchtlinge zu versorgen. "Wir wollen raus aus Griechenland. Das Land ist arm. Hier kann uns keiner helfen. Wir haben nichts", sagt Rahima, eine Mutter von vier Kindern aus Syrien. Sie hat es bis Athen geschafft: "Wir sind durch die ganze Türkei gezogen bis ans Mittelmeer. Dort hat uns ein Schlepper für 5000 Dollar mit einem Fischerboot nach Griechenland gebracht. Er hatte versprochen, uns zu helfen, damit wir nach Deutschland kommen. Aber das hat er nicht getan."
Für Rahima und Tausende andere Flüchtlinge ist Griechenland eine Sackgasse. Keine Hilfe, keine Arbeit und keine Chance, in ein anderes Land weiterzuziehen. Deshalb bieten Schlepper-Organisation auch in Athen ihre Dienste an. Für mehrere tausend Euro versprechen sie: Wir bringen Euch von Griechenland nach Italien oder gleich nach Deutschland oder Skandinavien.
Rahima, die Mutter mit den vier Kindern, kann sich keinen Schlepper mehr leisten: "Der Mann, der uns versprochen hatte: Ich bring Euch nach Deutschland - das war ein Betrüger. Der hat jetzt alles, was ich erspart hatte. Ich hab dann sogar versucht, zu Fuß loszuziehen. Aber an der Grenze nach Mazedonien haben uns die Grenzbeamten zurückgeschickt. Deshalb sind wir wieder hier in Griechenland."
Derwisch Abdul ist ebenfalls aus Syrien geflüchtet, aber schon vor 15 Jahren. Er spricht perfekt Griechisch, hat hier Architektur studiert, fühlt sich in Athen zu Hause. Derwisch Abdul unterstützt seine Landsleute, die ebenfalls in Griechenland bleiben wollen, aber, so sagt er, das seien die wenigsten. Die meisten fragen als erstes: Wie komme ich nach Westeuropa? "Es gibt keinen legalen Weg. Leider erlaubt es der griechische Staat nicht, dass die Leute ausreisen, und die anderen EU-Länder lassen niemanden herein. Die Leute können ja auch nicht zurück ins Kriegsgebiet. So werden meine Landsleute wieder zu Opfern der Schlepper", sagt Abdul.
Durch die Abschottung, durch die geschlossenen Grenzen für Flüchtlinge, liefere die Europäische Union den Schleppern die Geschäftsgrundlage, sagt Derwisch Abdul: "Alle, die in den letzten fünf Jahren von Griechenland weg sind, machen das mit der Hilfe von Schleppern, entweder zu Fuß über den Balkan, mit gefälschtem Pass im Flugzeug oder per Schiff nach Italien."
Heimat noch gefährlicher
Klar, sich Schleppern auszuliefern, das ist lebensgefährlich. Aber in seiner Heimat sei es noch viel gefährlicher, sagt Mahdi, ein 37-jähriger Flüchtling aus dem Sudan. "Wir kommen aus dem Krieg. Aber hier ist ein anderer Krieg. Wir kämpfen ums Überleben", sagt Mahdi. Er hat kein Geld für Schlepper und wartet im Hafen von Patras auf die Chance, sich in einem Lastwagen zu verstecken, der auf eine Fähre nach Italien fährt. Neulich hat er es einmal geschafft, aber die italienischen Grenzpolizisten erwischten ihn und schickten ihn zurück nach Patras.
So sitzt Mahdi jetzt im Hafen von Patras und blickt sehnsüchtig den Fähren hinterher, die mit Kurs nach Italien ablegen. Wie gern wäre er mit an Bord - unterwegs in eine bessere Zukunft.
Italien: "Absolute Unkenntnis der Begebenheiten"
Täglich stranden in Italien Flüchtlinge. Im Vergleich zu anderen Ländern Europas kommen in Italien die meisten Flüchtlinge an. Von Januar bis Mai diesen Jahres sind es dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen zufolge bereits mehr als 50.000 Menschen. Die Insel Lamepdusa ist zum Symbol für die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer geworden.
Von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Hörfunkstudio Rom
Matteo Renzi, Italiens forscher Ministerpräsident, hat den Schleppern den Kampf angesagt - angesichts von rund 1800 Toten auf dem Mittelmeer seit Januar und angesichts von weit über 50.000 Migranten, die es in diesem Jahr schon lebend nach Italien geschafft haben.
Renzi will, dass Europa mehr tut, um den Schleppern das Geschäft zu verderben: "Die Menschenhändler zu bekämpfen, bedeutet, die Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts zu bekämpfen. Das ist eine Frage der Menschenwürde und der Gerechtigkeit." Die Tatsache, dass in diesem Moment 1002 Männer in den italienischen Gefängnisse einsäßen, die von unserer Polizei verhaftet wurden, könne nicht bedeuten, dass Europa uns den Kampf überlassen könne, der ein Kampf für die Zivilisation sei.
Fahrlässige Tötung in hunderten Fällen
Man sollte nach Sizilien reisen um zu verstehen, wie ernst die Lage ist. Vor allem um zu lernen, wie wenig die Erfolge wert sind, auf die Renzi stolz ist. In Catania verteidigt der Anwalt Massimo Ferrante den Kapitän eines Flüchtlingsbootes, einen Tunesier, dem fahrlässige Tötung in hunderten Fällen vorgeworfen wird.
Vor wenigen Wochen, am 19. April, sank 70 Meilen vor der Küste das Boot, das er steuerte. Rettung kam schnell, aber zu spät. Hunderte waren im Bauch des Bootes eingepfercht, 600, 700, vielleicht 800 Menschen sind ertrunken, nur 28 haben überlebt. Seitdem bewegt sich etwas in Europa - die Rettungsmission auf dem Mittelmeer wurde, auch mit deutscher Beteiligung, ausgeweitet.
Seitdem wird auch über den Kampf gegen die Schlepper diskutiert. Zum Beispiel darüber, ihre Boote zu zerstören. Massimo Ferrante, der Anwalt, ist mehr als skeptisch: "Wenn die Politiker darüber sprechen, die Boote zu zerstören, dann sind das leere Worte, die keinen Sinn haben. Sie basieren auf einer absoluten Unkenntnis der Begebenheiten."
"Es ist nicht nur ein sizilianisches oder italienisches Problem", sagt Anwalt Massimo Ferrante im kurzen Video-Interview (hier klicken). Außerdem seien das Problem nicht nur die Schlepper, erklärt der Anwalt in einem weiteren Interviewausschnitt (hier klicken). Sie seien das letzte Glied der Kette.
Prozesse gegen viele der kleinen Fische
Im Justizpalast von Catania werden die Prozesse gegen viele der kleinen Fische geführt, die ins Netz gehen. Die Kapitäne der Flüchtlingsboote haben keinen großen Anteil am großen Geschäft mit der Flucht nach Europa. Sie sind normalerweise die, die das Steuer halten - und dafür gerade mal die Reise umsonst bekommen - wenn sie ins Gefängnis gehen, gibt es tausend andere, die ihren Job übernehmen.
Wer zu Giovanni Salvi, dem Generalstaatsanwalt, will, muss gleich an mehreren Sicherheitskontrollen vorbei - aus Sorge vor Anschlägen der Cosa Nostra. Lange Jahre war der Kampf gegen die Mafia hier die schwerste Aufgabe - aber inzwischen sind einige Staatsanwälte damit beschäftigt, den Schleppern das Handwerk zu legen.
Giovanni Salvi erzählt von Erfolgen: Man habe die Chefs von Schleuserorganisationen in Ägypten ermittelt, die viele Tote auf dem Gewissen und die schlimme Verbrechen begangen hätten. Aber nun gebe es Probleme mit der Auslieferung.
Der Generalstaatsanwalt von Catania steht offenbar auf verlorenem Posten in diesem Kampf - und das liegt auch an der Verzweiflung derer, die die Schlepper nach Europa bringen: "Es gibt Familien, die nicht in der Lage sind, die Reise zu bezahlen. Sie setzen Kinder ohne Begleitung in die Boote. Und sie tun das nicht, um sie auszusetzen, sie allein zulassen, sondern aus Liebe zu ihnen. Sie lassen sie auf den Booten zurück, damit sie eine bessere Zukunft in Europa haben. Glauben sie, dass die Menschen, die die Wüste durchqueren und Kinder in die Boote setzen, davon abgehalten werden, weil ein Schiff untergeht? Das ist nicht die Lösung", sagt Salvi.
Brüsseler Versagen
Es gibt noch ein Problem im Kampf gegen die Schlepper - und das ist Europas Flüchtlingspolitik: In Verona, im Norden Italiens, trifft man einen, der das Geschäft der Schlepper untersucht hat und der ihnen nahe gekommen ist wie nur wenige. Andrea di Nicola ist Kriminologe, gemeinsam mit dem Journalisten Giampaolo Musomeci hat er ein Buch geschrieben und dafür mehrere Schlepper rund um das Mittelmeer getroffen.
An Europas Flüchtlingspolitik lässt er kein gutes Haar - auch, weil sie dazu führt, dass sich verzweifelte Menschen den Schleppern anvertrauen. Warum Menschen, die Asyl in Anspruch nehmen wollen, die vor Krieg und Terror flüchten, dabei viel Geld ausgeben und ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, ist ihm ein Rätsel: "Alle diese Schleuser haben uns dasselbe gesagt: Ihr sorgt dafür, dass wir Arbeit haben. Wenn ihr euch so verhaltet, verdiene ich nur noch mehr. Ihr schließt eure Grenzen und investiert nur in Abwehr. Ihr habt Frontex? Das alles bringt mehr Geld für mich, für meine Organisation, für mein Netzwerk."
So machen die Schlepper weiter ihre Geschäfte, und verdienen kräftig mit der Not und Verzweiflung - und mit dem Traum von Europa.
Das gesamte Radio-Feature (28 Minuten) zum Nachhören
Die Autoren und Autorinnen
In Brüssel verfolgt Karin Bensch, wie sich Europas Politiker zum Thema Flüchtlinge positionieren: "Mich hat besonders beeindruckt und schockiert, dass die Aufnahme von Flüchtlingen, die Krieg und Krisen überlebt haben, dermaßen umstritten ist. Und nationale Egoismen in vielen Länder offenbar über europäischer Solidarität stehen."
Thomas Bormann war bei seiner Recherche besonders beeindruckt von drei Brüdern aus Syrien, die er in Istanbul getroffen hat: "Durch die Flucht wurden sie von ihrer Mutter getrennt. Sie ist in Deutschland; ihre Söhne sind in Istanbul. Die drei wollen ohne die Hilfe von Schleppern zu ihrer Mutter, aber die deutsche Bürokratie nimmt ihnen die Hoffnung: Sie haben erst im Februar 2016 einen Termin, um ihren Visum-Antrag beim deutschen Konsulat abzugeben."
Alexander Göbel hat für die Recherche Afrikaner getroffen, die in Marokko angekommen sind: "Ich war wirklich überwältigt von den Reiseberichten. Monate, manchmal Jahre waren sie auf gefährlichen Routen über die Sahara unterwegs. Ich habe hier kaum vorstellbare Flüchtlingsgeschichten gehört - aus Bürgerkriegsländern wie Somalia, aus von Islamisten terrorisierten Gebieten in Nordmali. Immer noch glauben sie an ein besseres Leben in Europa. Dieses bedingungslose "C'est l'Europe ou la mort", "Europa oder der Tod" - das lässt einen fassungslos zurück. Besonders dann, wenn man diesen Satz von jungen Müttern mit Babys hört. Oder von Menschen, die als Kinder zu Hause aufgebrochen sein müssen. Man gibt Menschen die Hand, schaut ihnen in die Augen, sieht ihre Entschlossenheit. Und muss einfach befürchten, dass diese Menschen ihre Entschlossenheit mit dem Leben bezahlen könnten."
Jan-Christoph Kitzler hat in Italien recherchiert. Etwa 60.000 Bootsflüchtlinge sind in diesem Jahr bislang übers Mittelmeer nach Italien gekommen: "Besonders berührt mich, wie viele Qualen, Gefahren und Erniedrigungen die Menschen auf der Flucht nach Europa auf sich nehmen - und wie wenig sie dafür bekommen, wenn sie ihr Ziel erreicht haben."
Sabine Rossi hat in Ägypten und zu Libyen recherchiert: "Während der Recherche habe ich Menschen wie Ahmad getroffen, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat Syrien geflohen sind. Sie wussten genau, welches Risiko sie eingehen, wenn sie sich einem Schlepper anvertrauen. Beeindruckt hat mich wie rational sie dieses Risiko kalkuliert haben und sich dann doch für eine Überfahrt entschieden haben. Sie haben ihr Leben auf Spiel gesetzt, eben weil sie leben wollen. Ohne Krieg. In Europa."
Die Redaktion für das Multimedia-Dossier hatte Barbara Schmickler. Für Grafik und Animation war Sascha Krück verantwortlich.