Venezuela ruft Wirtschaftsnotstand aus Der Fluch des schwarzen Goldes
Venezuela hat den Wirtschaftsnotstand ausgerufen. Wegen des niedrigen Ölpreises steht das Land vor dem Staatsbankrott. Durch die weltweit höchste Inflationsrate wird die Krise für viele Menschen zum Überlebenskampf.
Der Wartesaal in einem Krankenhaus im Zentrum von Caracas ist voll, fast alle blauen Plastiksitze sind belegt. Norma Hernández wartet auf ihre Mutter, die gerade behandelt wird. Seit Wochen ist sie auf der Suche nach einem speziellen Medikament.
"Ohne dieses Medikament würde meine Mutter einen epileptischen Anfall nach dem anderen bekommen", sagt sie. "Wir haben alles versucht, über die sozialen Netzwerke, Freunde, Familie - bis wir nun in einem anderen Krankenhaus zwei Ampullen bekommen haben." Doch auch diese werden nur ein paar Wochen vorhalten.
Mangelware Medikamente
Das Problem: Durch die katastrophale Wirtschaftslage sind Importe von Medikamenten, die nicht staatlich gestützt werden, fast unmöglich. Das macht sich auch in den Krankenhäusern bemerkbar. Fernando González - seinen richtigen Namen will der Arzt aus Angst von Sanktionen durch die Regierung nicht nennen - öffnet seinen Medikamentenschrank im Behandlungszimmer. Doch der ist quasi leer, Antibiotika gibt es nur noch wenige Packungen.
Er weiß kaum noch, wie er seine Patienten versorgen soll: "Die Patienten rufen mich verzweifelt an, ob ich dies oder jenes Medikament für sie habe, das sie in der Apotheke nicht bekommen, aber ich kann ihnen da oft auch nicht weiterhelfen. Das ist natürlich eine schwierige Situation."
González und seine Kollegen müssen im OP improvisieren. "Wir haben keine antibakteriellen Mittel, um die Wunden zu reinigen, also benutzen wir blaue Kernseife, die ansonsten für die normale Wäsche benutzt wird." Die schwere Wirtschaftskrise macht den Alltag für viele Venezolaner - im wahrsten Sinne des Wortes - zu einem Überlebenskampf.
Höchste Inflation der Welt
Die Inflation liegt bei 140 Prozent, die höchste weltweit. Das Bruttoinlandsprodukt ist um sieben Prozent gesunken - das sagen die gerade veröffentlichten Wirtschaftszahlen der venezolanischen Zentralbank, es sind die ersten nach einem Jahr. Und der Ölpreis ist auf einem historischen Tiefststand.
Präsident Nicolás Maduro ist davon überzeugt, dass der Ölpreis manipuliert wird: "Der Preis für venezolanisches Rohöl ist innerhalb von einer Woche auf 24 US-Dollar gefallen. Das ist der niedrigste Stand seit zwölf Jahren. Der Ölmarkt ist ein Preiskrieg, der unabhängige Staaten brechen soll."
Wirtschaftsnotstand ausgerufen
Venezuela hat über Jahrzehnte auf die Öleinnahmen gesetzt und darüber die Lebensmittelproduktion und die Industrie vernachlässigt. Deswegen müssen fast alle Nahrungsmittel und Industrieprodukte importiert werden. Nun aber die Kassen sind leer, die wirtschaftliche Lage desolat. Präsident Maduro hat nun den wirtschaftlichen Notstand ausgerufen. Die Maßnahme stattet ihn mit weitreichenden Sonderrechten aus, um Wirtschaftsreformen einzuleiten. Der Notstand soll zunächst auf 60 Tage begrenzt werden.
Doch bevor er in Kraft treten kann, muss darüber in der Nationalversammlung abgestimmt werden. Die konservative Opposition, die nach den Parlamentswahlen Ende letzten Jahres eine Mehrheit im Parlament innehat, könnte das Dekret kippen. Seit Tagen verschärfen sich Konflikte zwischen Exekutive und Legislative. Währenddessen verschlechtert sich die Versorgungslage für die Bevölkerung immer weiter.
Grundnahrungsmittel sind knapp
Vor einem Supermarkt am Rande von Caracas hat sich eine lange Schlange gebildet. Milch, Eier, Mehl, Windeln, Shampoo sind immer schwerer zu bekommen und vor allen Dingen nicht jeden Tag. Die Endnummer auf dem Personalausweis entscheidet, an welchem Wochentag im Supermarkt Grundnahrungsmittel eingekauft werden können.
Heute ist Mariella an der Reihe. Fünf Stunden stand die 23-Jährige in der Sonne vor dem Supermarkt - das Warten hat sich gelohnt. Sie konnte zwei Pakete Zucker ergattern, die fehlten ihr, um Kuchen zu backen. Von dem Verkauf der Backware lebt sie, doch ihre Kunden bestellen immer seltener, weil sie selbst kein Geld mehr übrig haben. "Die Kunst ist es weniger Zutaten zu verwenden", sagt sie. "Aber der Geschmack darf natürlich nicht gänzlich verloren gehen. Ich will ja, dass meine Kunden zufrieden sind."
Menschen von Sozialisten enttäuscht
Während Mariella ihren Heimweg antritt, ist die Schlange vor dem Supermarkt noch länger geworden. Eine Frau spannt einen Schirm gegen die Sonne auf. Früher hat sie die Sozialisten gewählt, doch bei den letzten Parlamentswahlen hat sie sich dagegen entschieden. Maduro sei für die Misere verantwortlich.
"Es wäre schrecklich, wenn ich heute nicht mehr dran komme", sagt sie. "Aber man muss die Ruhe bewahren. Das hier ist unsere Realität. Aber ich hoffe, dass sich bald was ändert." Es muss sich etwas ändern - fügt sie später noch hinzu. In der Schlange geht es währenddessen nicht voran.