Rekord-Hochwasser "Venedig ist eine verletzte Stadt"
Ein verheerendes Hochwasser hat Venedig heimgesucht- und den Menschen das Szenario der untergehenden Stadt vor Augen geführt. Der Schreck ist groß, der Schaden millionenschwer, die Kritik laut.
Aqua alta - Hochwasser - das kennen die Venezianer und auch die Reisenden, die öfter kommen. Doch diesmal hat es die Menschen vor Ort an die Untergangsszenarien erinnert, die für Venedig immer wieder herauf beschworen werden.
Gepeitscht von starkem Wind mit Geschwindigkeiten um die 100 Kilometer pro Stunde und nach Dauerregen stieg das Wasser so hoch wie zuletzt vor 53 Jahren - auf 1,87 Meter über Normal. Nur ein einziges Mal seit Beginn der Aufzeichnungen 1923 stand das Wasser noch höher: 1966 erreichte der Pegelstand 1,94 Meter.
Mindestens ein Mensch kam ums Leben. Auf der zu Venedig gehörenden Insel Pellestrina erlitt ein 78-Jähriger infolge eines Kurzschlusses einen tödlichen Schlag.
Sehr viel Wasser und kein Strom
Mehr als 80 Prozent der Fläche Venedigs stehen unter Wasser. Straßen, Gassen, Plätze und Schiffsanleger sind überschwemmt. Der starke Wind schleuderte Vaporetti (Wasserbusse) ans Ufer und versenkte einige, mindestens 60 Schiffe wurden beschädigt.
Gondeln und Boote wurden aus Vertäuungen gerissen und trieben durch Kanäle. Menschen kämpften in reißendem Wasser gegen den starken Wind. Hotels und Wohnungen wurden überschwemmt. In Teilen der Stadt fiel der Strom aus.
Schäden gehen in die "Hunderte Millionen Euro"
Bürgermeister Luigi Brugnaro rief den Notstand aus. Er ist wütend und besorgt, dass die Stadt den Wassermassen bald nicht mehr gewachsen sein wird. Er machte den Klimawandel dafür verantwortlich und forderte, die seit Jahren geplante Flutsperre vor der Küste müsse endlich fertig gestellt werden. "Venedig wurde in die Knie gezwungen. Der Markusdom hat schwere Schäden abbekommen, genauso wie die ganze Stadt und die Inseln", sagte er. Insgesamt gingen die Schäden - unter anderem am Markusdom - in die "Hunderte Millionen Euro".
Doch Brugnaro sagte auch: "Hier geht es nicht nur darum, die Schäden zu beziffern, hier geht es um die Zukunft der Stadt." Viele Menschen würden wegziehen, weil die Lebensumstände immer schwieriger würden.
"Wir haben es mit apokalyptischen Zerstörungen zu tun", stellte der Präsident der Region Venetien, Luca Zaia, fest. Das italienische Kulturministerium in Rom richtete einen Krisenstab ein. Ministerpräsident Giuseppe Conte sprach am späten Nachmittag von einer dramatischen Situation.
Inzwischen hat sich das Wasser zurückgezogen, erreicht zwischenzeitlich aber immer noch 1,50 Meter. Schulen, Geschäfte, Museen und Ausstellungen blieben geschlossen. Auch das berühmte Theater "La Fenice" meldete Schäden und sagte Konzerte ab.
Harsche Worte in Richtung Rom
Im Markusdom, eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Italiens, soll das Wasser bis zu 1,10 Meter gestiegen sein. Ein erst vergangenes Jahr installiertes Schutzsystem konnte die Fluten nicht abhalten. Die Krypta glich einem Schwimmbad. "So etwas habe ich noch nie gesehen, (auf dem Markusplatz) waren Wellen so hoch wie an der Meeresküste", sagte der Patriarch von Venedig, Francesco Moraglia. "Wir haben verzweifelte Menschen gesehen. Venedig ist eine verletzte Stadt, die nicht jedes Jahr wieder verletzt werden kann."
Moraglia ließ kirchliche Einrichtungen als Notunterkünfte für Obdachlose und betroffene Familien öffnen. Zugleich erhob er schwere Vorwürfe gegen die Politik. Regierungsvertreter aus Rom kämen gerne zur Eröffnung der Kunstausstellungen und venezianischer Feste. "Wir wollen sie aber auch am Tisch haben, um bestimmte Dinge zu erörtern, die unsere Sicherheit betreffen", sagte er in einem Videobeitrag auf Facebook.
Auch Moraglia nannte dabei das Hochwasserschutz-Projekt "Mose". Die milliardenteuren Flutsperren, deren Bau 2003 begann, sind aufgrund von Korruption und bürokratischer Hürden weiterhin nicht fertiggestellt. Der Patriarch bekundete "große Bitterkeit" angesichts eines Schweigens der Zentralregierung.
"Aqua alta" in Venedig entsteht, wenn starker Südwind die Flut in die Stadt drückt, die von zahlreichen Kanälen durchzogen wird. Diesmal kamen heftiger Regen und der Vollmond hinzu, der die Gezeiten besonders hoch treibt.
"Mose"-Projet - Fluch oder Segen?
Viel wird nach diesem Rekordhochwasser über das Küstenschutzprojekt "MO.S.E." gesprochen. 2003 wurde der Bau begonnen, doch bis heute ist er nicht fertig. "Mose" besteht aus beweglichen Barrieren unter dem Meeresspiegel und soll die Überflutung Venedigs begrenzen. Aber es ist auch umstritten. Einige Bewohner sehen eher den Untergang als den Schutz darin. "Das größte Problem ist, dass das Wasser sehr schnell reinkommt, aber nicht abfließt", sagte eine Einwohnerin. Umweltschützer warnen zudem, dass durch "Mose" das empfindliche Ökosystem der Lagune geschädigt werden könne.
Der Präsident der Region Venetien, Zaia, sagte dem Sender SkyTG24, die Sperre sei zwar fast fertig, es sei aber unklar, wie sie bei einer derart hohen Flut funktionieren werde. "Trotz fünf Milliarden Euro unter Wasser wäre der Markusplatz mit Sicherheit nicht sicher." Der Platz vor der Basilika wird bereits bei einem Hochwasser von 80 Zentimetern überflutet.
Der Boden sackt weg, der Meeresspiegel steigt
Wissenschaftler warnen seit langem vor den Folgen des Erderwärmung für die Welterbestadt, die in einer Lagune an der Adria liegt. Schmelzen Eis und Gletscher, so erhöht sich der Meeresspiegel. Je mehr der Meeresspiegel steigt, desto höher ist das Risiko von Überflutungen. Auch sackt der Boden in Venedig ab. Ein Großteil der Gebäude wurde auf Pfählen gebaut. Ebbe und Flut und Wellenbewegungen durch Schiffe nagen an den Bauten. Kritiker machen zudem das Ausbaggern von Fahrrinnen für große Schiffe für das Absacken verantwortlich.
"Was wir definitiv wissen: Ereignisse wie jetzt in Venedig werden durch die Klimaerwärmung verstärkt", sagte Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung der dpa. "Wenn sich Ozeane erwärmen, verdunstet mehr Wasser in die Atmosphäre und das muss wieder raus. Dadurch entsteht mehr Niederschlag für den ganzen Globus. Gleichzeitig häufen sich Starkregenereignisse." Durch den CO2-Ausstoß werde Venedig künftig unter dem Meeresspiegel liegen. "Deshalb ist es entscheidend, was wir jetzt und in der Zukunft dagegen unternehmen."
Er räumt ein, dass der Küstenschutz "auf dem Niveau, das der Klimawandel verlangt", kompliziert ist. "Es ist alles andere als trivial, Städte wie Hamburg oder Venedig vor dem Meeresspiegelanstieg zu schützen. Einfach wird das nicht gelöst, um es milde auszudrücken."
Mit Informationen von Jörg Seisselberg, ARD-Studio Rom