Parlament beschließt neue Verfassung Europa sorgt sich um Ungarns Demokratie
Mit der Mehrheit seiner rechtskonservativen Fidesz-Partei hat Ungarns Regierungschef Orban eine neue Verfassung beschließen lassen. Kritiker fürchten um die Zukunft der demokratischen Werte in dem Land. Bundesregierung, europäische Politiker und UN-Generalsekretär Ban zeigten sich besorgt.
Die Verabschiedung der neuen ungarischen Verfassung hat in Europa Besorgnis und Kritik ausgelöst. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, erklärte, dass schon die zu Jahresbeginn in Kraft getretenen ungarischen Mediengesetze von einem Grundrechtsverständnis zeugten, das "nur schwer mit den Werten der Europäischen Union vereinbar ist". Die damit verbundenen Befürchtungen der Bundesregierung "werde mit der heute verabschiedeten Verfassung - und ihrem Zustandekommen - bestärkt statt entkräftet", fügte Hoyer hinzu.
Daniel Cohn-Bendit, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Europäischen Parlament, bezeichnete die Entwicklung in Ungarn als "dramatisch, denn Demokratie ist nicht nur das Recht der Mehrheit zu regieren, sondern auch die Verpflichtung, die Rechte der Minderheit zu respektieren und zu schützen". Cohn-Bendits Co-Fraktionsvorsitzende Rebebecca Harms verlangte eine Grundsatzdebatte in der EU. "Es kann nicht sein, dass die Einhaltung der Menschenrechte und freiheitlicher Grundrechte zwar für den Beitrittsprozess eines Landes relevant sind, aber nach dem Beitritt missachtet werden können", erklärte sie. Zuvor war die Verfassung bereits bei der Venedig-Kommission auf Kritik gestoßen. Bei der Ausarbeitung habe es an Transparenz gemangelt, zudem schränke die Verfassung den Handlungsspielraum des Verfassungsgerichts ein. Die Kommission ist das für Verfassungsfragen zuständige Beratungsorgan des Europarates.
Ban mahnt Ungarn zur Annahme von Beratungen
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte Ungarn auf, sich von internationalen Institutionen beraten zu lassen. Es gebe weltweit Besorgnis über die Verfassung, sagte er während eines Besuchs in Budapest. Er würde es begrüßen, wenn die Regierung innerhalb Ungarns sowie in Europa und bei den Vereinten Nationen Empfehlungen einholen würde. Zwar habe jedes Land das Recht, eine eigene Verfassung zu schaffen, jedoch müsse diese mit internationalen Regeln und Normen in Einklang stehen, sagte Ban. Das gelte auch für das umstrittene ungarische Mediengesetz.
Am Nachmittag hatte das ungarische Parlament die umstrittene neue Verfassung mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit gebilligt. 262 Abgeordnete stimmten in dem von der regierenden rechtskonservativen Fidesz-Partei dominierten Haus für das neue Regelwerk, 44 dagegen. Die oppositionellen Sozialisten und die liberale LMP blieben der Abstimmung aus Protest fern. Sie befürchten vor allem eine Schwächung des Parlaments. Der Vorsitzende der ungarischen Sozialisten, Attila Mesterhazy, bezeichnete die neue Verfassung als illegitim und vorübergehend. Fidesz erklärte dagegen, jeder Ungar könne auf diese Verfassung "stolz" sein. Nach Darstellung der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban schließt die neue Verfassung den Übergangsprozess vom Kommunismus zur Demokratie ab. Zudem stelle die Reform das Land auf eine solide wirtschaftliche Basis und reduziere die Risiken politischer Skandale, die Ungarn in den vergangenen Jahren immer wieder erschüttert hatten.
Tausende protestieren gegen Verfassung
Mehrere tausend Menschen protestierten gegen die neue Verfassung, die aus Sicht von Menschenrechtsgruppen eine demokratische Kontrolle der Regierung erschweren wird. Auf der Grundlage der neuen Verfassung, die Anfang 2012 in Kraft treten soll, kann Fidesz das Land umgestalten, die eigene Macht festigen und jede Nachfolgeregierung handlungsunfähig zu machen. Wird das Staatsbudget nicht rechtzeitig angenommen, kann der Staatspräsident das Parlament auflösen. Ein von Fidesz über neun Jahre hinweg kontrollierter Haushaltsrat kann das Budget jederzeit durch ein Veto blockieren.
Nach Ansicht von Kritikern beschneidet die Verfassung, die einen 1949 erlassenen und 1989 abgeänderten Text ersetzt, die Bürgerrechte und baut die Macht des Regierungschefs Orban unzulässig aus. Nach der neuen Verfassung, die praktisch ausschließlich von Fidesz-Abgeordneten ausgearbeitet worden war, wäre Orban bei einer Wahlniederlage 2014 noch immer befugt, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Regierungsunabhängige Organisationen kritisierten zudem, dass die Verfassung von einer starken "christlich-rechten Ideologie" geprägt sei, die Atheisten, Homosexuelle und Alleinerziehende benachteilige.
"Nationales Glaubensbekenntnis" in der Präambel
Die Verfassung beginnt mit dem ersten Vers der ungarischen Nationalhymne "Gott schütze den Ungarn". Die Präambel heißt "Nationales Glaubensbekenntnis" und verankert Gott, Christentum, Krone, den Stolz auf die Geschichte sowie eine nicht näher definierte "historische Verfassung" als Rechtsmaßstäbe. Kritiker erinnert dies an die faschistische Ideologie der 1930er-Jahre. Nicht mehr jeder Ungar darf vor dem Verfassungsgericht klagen, auch Kommunen ist dieser Weg verschlossen. Nur Staatspräsident, Regierung oder eine Gruppe, die aus mindestens einem Viertel der Parlamentarier gebildet ist, darf künftig die Überprüfung von Gesetzen auf Verfassungsmäßigkeit verlangen. Das Verfassungsgericht darf nicht mehr über Gesetze urteilen, die den Staatshaushalt betreffen. Die Bürger haben deutlich weniger Möglichkeiten, die Politik mitzugestalten. Volksbegehren soll es gar nicht mehr geben. Gänzlich ausgeschlossen werden Referenden zu Verfassungsänderungen oder zu den Wahlgesetzen. Die Kommunalwahlen sollen nicht mehr alle vier, sondern nur noch alle fünf Jahre stattfinden.