Verhaftungen in der Türkei
Interview

Festnahmen in der Türkei "Gegen alle Rechtsstaatlichkeit"

Stand: 26.04.2017 17:33 Uhr

Der türkische Anwalt Ahmet Günes ist ein Kritiker der Gülen-Bewegung. Dennoch lehnt er die Verfolgung der Gülen-Anhänger in der Türkei ab. Die Verhaftungen widersprächen allen rechtsstaatlichen Prinzipien, sagt Günes im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Mehr als 1000 mutmaßliche Gülen-Anhänger sind bei landesweiten Razzien in der Türkei festgenommen worden. Wie bewerten Sie das?

Ahmet Günes: Ich beobachte die Vorkommnisse in der Türkei mit großer Sorge. Denn eine Verhaftung setzt in einem Rechtsstaat voraus, dass sehr konkrete Gründe und Beweise vorliegen, die eine Verhaftung rechtfertigen. Und was bislang über die Medien zu entnehmen war, ist, dass auf Seiten der türkischen Ermittlungsbehörden nur Vermutungen bestehen.

Zur Person
Ahmet Günes, in Remagen am Rhein geboren, ist Anwalt für Straf- und Familienrecht. Gleichzeitig ist Günes Vorsitzender der "Türkische Gemeinde in Rheinland-Pfalz e.V.". Er sieht die Gülen-Bewegung kritisch, stellt sich aber auch gegen das Vorgehen der türkischen Regierung gegen Oppositionelle.

tagesschau.de: Was bereitet Ihnen dabei am meisten Sorge?

Günes: Dass sich die Türkei in einen autoritären Unrechtsstaat verwandelt, in dem Menschen willkürlich verhaftet und auch bespitzelt werden. Einen Staat, der in keiner Weise mit einem demokratischen Rechtsstaat vergleichbar wäre, in dem Menschen Angst vor Repressalien haben müssen, allein deswegen, weil sie eine andere Auffassung vertreten als die Führung.

tagesschau.de: Erwarten Sie eine weitere Eskalation der Verfolgung Oppositioneller in der Türkei?

Günes: Ich hatte gehofft, dass angesichts der vielen Verhaftungen, die bereits stattgefunden haben, mittlerweile die Grenze erreicht sei. Heute wurden aber erneut mehr als 1000 Menschen festgenommen, und ich befürchte, dass noch weitere folgen werden.

Die Türkei hat einen Putsch erlebt - dieser war real und hochgradig bedrohlich. Doch die Menschen, die jetzt verhaftet wurden, können nicht dem Vorwurf ausgesetzt werden, alle an dem Putsch mitgewirkt zu haben. Schaut man sich allein die Zahlen an, ist es unmöglich, hier von einer gemeinschaftlichen Komplizenschaft auszugehen. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie nur verhaftet wurden, weil sie eine bestimmte Gesinnung haben. Das macht eine Strafverfolgung sehr schwer und darf rechtsstaatlich keine Inhaftierung nach sich ziehen.

tagesschau.de: Hatten Sie erwartet, dass sich die Situation in der Türkei nach dem knappen Sieg Erdogans beim Verfassungsreferendum befriedet?

Günes: Ich hatte nicht erwartet, dass im Land nach dem Referendum wieder Frieden herrscht - aber dass sich die Situation beruhigt. Es gab erste Anzeichen, dass die Türkei sich Europa auf wirtschaftlichem Feld wieder annähern wolle, vor allem auch Deutschland. Doch für eine wahre Befriedung sind die Gräben im Land zu tief.

tagesschau.de: Was geschieht mit Ihren Kollegen in der Türkei?

Günes: Ich habe mit einigen Kollegen gesprochen. Alle sagten mir, dass sie sehr große Sorge und Angst haben, ihren Beruf in der Türkei weiter auszuüben. Ein Familienrichter wurde kürzlich seines Dienstes enthoben und verhaftet. Meine Kollegen hatten Sorge, ihn zu vertreten - aus Angst vor Ermittlungsbehörden und davor, selbst als Anhänger der Gülen-Bewegung ins Blickfeld zu geraten.

tagesschau.de: Welches Klima herrscht momentan für Unterstützer von Verfolgten?

Günes: Es geht dabei um Einschüchterung im alltäglichen Leben, um sehr reale Angst. Mir ist in der Türkei noch kein Mensch begegnet, der eine oppositionelle Meinung vertritt und keine Angst hat. Die Opposition sammelt sich zwar wieder, doch es ist auch Resignation zu beobachten. Mich bitten inzwischen Kontakte aus der türkischen Mittelschicht, ihnen legale Wege für einen Aufenthaltstitel für Deutschland aufzuzeigen.

tagesschau.de: Der Deutsche Anwaltverein hat türkische Anwälte in Deutschland aufgerufen, Ansprechpartner für türkische Verfolgte zu sein. Was genau sollen Sie tun?

Günes: Den Schwerpunkt sehe ich in der Unterstützung von Kollegen in der Türkei. Ich erachte die Unabhängigkeit der Justiz als einen der Grundpfeiler der Demokratie. Zur freien Justiz gehören unabhängige Richter, aber auch Anwälte. Jeder Mensch hat das Recht, verteidigt zu werden.

Wir beobachten auch Prozesse in der Türkei und organisieren gegebenenfalls die Verteidigung vor Ort. Es läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich höre, dass nach dem Putsch die Putschisten der Todesstrafe zugeführt werden sollen - einer Norm, die es zum Tatzeitpunkt gar nicht gab. Das widerspricht allen strafrechtlichen Konventionen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 26. April 2017 um 15:00 Uhr.