Interview mit Filmemacher Neumann "Tibeter können keine Tibeter mehr sein"
Drei Monate lang waren der Exil-Tibeter Tash Despa und der britische Filmemacher Jezza Neumann in Tibet unterwegs. Was sie dort verdeckt recherchierten, zeigte das Erste in einer Dokumentation. tagesschau.de befragte Neumann zu seinen Erfahrungen im chinesisch besetzten Tibet.
tagesschau.de: Mr. Neumann, Sie waren vor den Unruhen in Tibet. Wie haben Sie sich dort bewegt?
Jezza Neumann: Wir sind mit einem Touristenvisum eingereist, mussten extrem vorsichtig sein. Da ich als Europäer in Tibet leicht auffalle, sind wir meist in der Nacht gereist. Viele Recherchen und Interviews konnten wir erst nach Einbruch der Dunkelheit durchführen. Die Anspannung war riesig, zumal mir klar war, dass ich das größte Risiko an der ganzen Unternehmung war.
tagesschau.de: Was wäre passiert, wenn man Sie und Ihre Kontakte zusammen erwischt hätte?
Neumann: Mir wäre vermutlich wenig passiert, ein paar Tage im Gefängnis. Anders war es mit unseren tibetischen Interviewpartnern. Sie alle riskierten viel, damit der Film zustande kommt. Wir haben von Fällen gehört, in denen eine Notiz "Freiheit für den Dalai Lama" zu drei Jahren Gefängnis führte. Die meisten unserer Kontaktpersonen hatten schon einmal wegen solcher "Vergehen" im Gefängnis gesessen. Allein, dass sie mit einem Ausländer sprechen, wäre vermutlich ein großes Problem für unsere Partner gewesen.
tagesschau.de: Wie viele Menschen haben Sie getroffen?
Neumann: Wir haben mehr als ein Dutzend Tibeter getroffen. Aber es sind nicht alle im Film zu sehen; bei einigen war die Angst zu groß, dass sie erkannt und bestraft werden. Das hat uns aber klar gemacht: Hier geht es nicht um ein oder zwei Einzelfälle. Viele Tibeter haben solche Erfahrungen gemacht, vor allem mit Blick auf das Thema religiöse Freiheit.
tagesschau.de: Welche Erfahrungen sind das, können Sie das bitte ausführen?
Neumann: Die chinesische Geheimpolizei ist ständig in den Klöstern präsent, schirmt die Touristen von den Mönchen ab, sie führt Razzien durch - und wenn dann Material gefunden wird, das etwa auf den Dalai Lama hindeutet, werden die Mönche festgenommen. Die Predigten des Dalai Lama sind verboten, ebenso Bilder von ihm; die Menschen dürfen nicht einmal mehr zu ihm beten.
tagesschau.de: Abgesehen von der Religion - wo ist diese Form von Unterdrückung noch präsent?
Neumann: In allen Bereichen des Lebens. Tibeter können praktisch keine Tibeter mehr sein. Tibetische Studenten müssen sich in den Universitäten öffentlich zur kommunistischen Partei Chinas bekennen. Wir trafen immer wieder junge Leute, die die einfachsten Begriffe nicht mehr auf Tibetisch nennen können, weil Mandarin-Chinesisch viel präsenter in ihrem Leben ist.
tagesschau.de: Auch in den kleinen Städten und Dörfern?
Neumann: Praktisch jedes Geschäft in jedem Dorf und jeder Stadt, die wir bereisten, war im Besitz von Han-Chinesen. Die großteils nomadisch lebenden Einheimischen wurden innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte Stück für Stück gezwungen, sesshaft zu werden und die alte Lebensweise aufzugeben. Eine Hilfe zum Übergang in die Moderne hat es nur unzureichend gegeben.
tagesschau.de: Was sagen die chinesischen Behörden zu diesen Vorwürfen?
Neumann: In Großbritannien sind wir durch die Mediengesetze dazu verpflichtet, die Vorwürfe durch die Chinesen kommentieren zu lassen. Pekings Vertretung in London hat das abgelehnt. Der Film sei ein Witz, keines Kommentars würdig.
tagesschau.de: Wissen normale Chinesen eigentlich, was in Tibet seit dem Einmarsch der Volksbefreiungsarmee geschieht?
tagesschau.de: Waren Sie denn überrascht, als Sie von den Unruhen hörten?
Neumann: Die tibetische Jugend ist sehr unglücklich - und sie ist gut vernetzt. Vielerorts erfuhren die Menschen durch SMS von der Situation in Lhasa und anderen Teilen Tibets. Meiner Ansicht nach ist der Einzige, der die jungen Tibeter von einem größeren Aufstand abhält, der Dalai Lama.
Das Gespräch führte Christian Radler, tagesschau.de