Hochwasser in Ostafrika "Keine Erholung zwischen den Katastrophen"
Ostafrika leidet derzeit unter gewaltigen Überschwemmungen. Die dramatischen Folgen für Millionen Menschen werden weit über die Flutkrise hinausreichen, befürchtet ein Experte von der Deutschen Welthungerhilfe.
tagesschau.de: Seit Wochen ist Äthiopien von gewaltigen Hochwassermassen überschwemmt. Wie schlimm ist es?
Matthias Späth: In Äthiopien handelt es sich um die schlimmste Flut, die dort jemals registriert wurde. Dort sind bislang mehr als eine Million Menschen betroffen. Über 300.000 mussten wegen der enormen Fluten ihre Dörfer verlassen, weil sie komplett zerstört worden sind. Erntegebiete, die bislang noch nicht von den Heuschrecken vernichtet worden waren, sind jetzt zum großen Teil geflutet.
Hunderttausende Menschen sind behelfsmäßig in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden untergebracht. Die Versorgung mit Nahrung und Hilfsgütern ist sehr lückenhaft. Vor allem im Osten Äthiopiens gibt es viele unerreichte Gebiete, weil vielerorts die Straßen zerstört wurden. Malaria- und Cholerarisiko steigt durch Hochwasser
tagesschau.de: Die umliegenden Staaten hat es ebenfalls schwer getroffen. Was wissen Sie darüber?
Späth: Dort sind weite Gebiete entlang des Blauen Nils von der äthiopischen Grenze bis zur Hauptstadt Khartum überflutet. Insgesamt sind 17 der 18 Bundesstaaten unmittelbar betroffen. Im Nordsudan sind meinen Informationen zufolge etwa 750.000 Menschen und im Südsudan noch einmal 650.000 Menschen betroffen. Es hat bereits mehr als 100 Tote gegeben und über 100.000 Häuser wurden zerstört. In diesen beiden Ländern trifft es vor allem Viehzüchter sehr hart. Sie haben viele Tiere verloren.
Die drei am ärgsten heimgesuchten Gebiete im Sudan sind der "Armengürtel" um die Hauptstadt Khartum, die Provinz Norddarfur sowie die westsudanesische Provinz Sanar. Dort soll jedes zweite Haus zerstört worden sein. Wir erreichen mit Soforthilfe momentan etwa 70.000 Menschen.
So eine Flut bringt immer viele Begleiterscheinungen mit sich. In Äthiopien wie auch im Sudan sind das Malaria- und das Cholerarisiko enorm gestiegen, während gleichzeitig die zerstörte Infrastruktur sowie geltende Covid-19-Schutzmaßnahmen Hilfe sehr erschweren.
"Immer geschwächtere Gesellschaften" durch Krisen
tagesschau.de: Hochwasser in Ostafrika sind nicht so selten. Aber warum nehmen die Überflutungen in diesem Jahr diese ungeheuren Ausmaße an?
Späth: Wir erleben hier die Fortsetzung eines Trends der vergangenen zehn Jahre. Auf anhaltende Dürren folgen riesige Wassermassen, die dann von den ausgetrockneten Böden immer weniger aufgenommen werden können. Wir verzeichnen ständig neue Rekorde. Früher kamen Überschwemmungen etwa alle fünf Jahre im Zuge des El-Niño-Effektes vor. Jetzt haben wir fast jährlich diese Abfolge von Dürre und immer höheren Überschwemmungen.
Dieses Jahr kommt nun noch die klima-induzierte Heuschreckenplage dazu. Diese Katastrophen treffen Jahr für Jahr auf immer geschwächtere Gesellschaften, weil es für sie keine Erholungsphasen mehr zwischen den verschiedenen Katastrophen gibt. Der Viehbestand kann sich nicht erholen, die Menschen können sich nicht erholen, die Verluste in der Landwirtschaft können nicht binnen Jahresfrist ausgeglichen werden.
Über 100 Menschen sind im Sudan durch die Überschwemmungen umgekommen.
In Ostafrika droht eine gewaltige Hungersnot
tagesschau.de: Wer hilft den Menschen, was tun die Regierungen in Khartum und Addis Abeba?
Späth: Die Regierungen versuchen, die Hilfsleistungen zu koordinieren. Sie arbeiten mit dem Welternährungsprogramm und anderen UN-Organisationen zusammen, um die Bekämpfung der Heuschreckenplage und der Nahrungslieferungen zu koordinieren. Optimistisch geschätzt stehen bisher maximal 50 Prozent der benötigten Geldmittel zur Verfügung, aber vor Ort ist Hilfe in ausreichendem Maße noch lange nicht angekommen.
Es gibt riesige Landstriche, wo momentan niemand hinkommen kann, weil Infrastruktur und Verbindungen zerstört sind. Am ehesten geht das gegenwärtig tatsächlich mit Kamelen. Wir haben Bilder bekommen, die zeigen hungernde Menschen des Afar-Volkes. Diese Bilder erinnern an die dramatische Hungersnot in Biafra in den 1970er-Jahren. Die Menschen dort haben seit Wochen kein Essen und Trinkwasser mehr erhalten und vor allem Kinder sterben dort jetzt schon massenhaft. Ich befürchte, dass immer mehr Regionen betroffen sein werden.
Sudans Hauptstadt Khartum erlebt in der Regenzeit oft Überschwemmungen. Aber noch nie stieg das Wasser so hoch wie in diesem Jahr.
Bürgerkrieg und Inflation zehren die Menschen aus
tagesschau.de: Wie viele Menschen werden von den Folgen dieser aufeinanderfolgenden Katastrophen betroffen sein?
Späth: In Äthiopien mit seinen mehr als 100 Millionen Menschen dürften bald bis zu 60 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt betroffen sein. Auf die zu erwartende Nahrungsmittelknappheit wird die Inflation folgen. Die Preise für Obst, Gemüse und Saatgut steigen jetzt schon wegen der Verknappung drastisch an. Die Fleischpreise hingegen sinken gegenwärtig dramatisch, weil viele Tiere geschwächt sind und geschlachtet oder wegen Futtermangels verkauft werden müssen. Das wird die Kaufkraft der betroffenen Viehhalter noch mehr schmälern. Es wird sehr viele Nebenwirkungen geben. Ein Beispiel ist die "gender equality": Mädchen werden jetzt aus der Not heraus wieder früh verheiratet, weil kein Geld für ihre Bildung übrig bleibt.
tagesschau.de: Werden die Folgen im Sudan ähnlich schlimm sein?
Späth: Die sudanesische Wirtschaft ist schon seit etlichen Jahren durch internationale Sanktionen geschwächt. Dort herrschen zudem in Darfur und im Südsüdan Bürgerkriege, die der Bevölkerung massiv zusetzen. Diese Gesellschaften haben sich nie erholt. Durch die Flutkatastrophe haben wir es mit rund zwei Millionen Binnenvertriebenen zu tun. Die Verknappung von sauberem Wasser und von Weideland wird bestehende Konflikte weiter anheizen und zu noch mehr Vertriebenen führen. Es ist ein sehr unguter Kreislauf, der durch die Wetterkapriolen und den Klimawandel noch beschleunigt wird.
Nach langer Dürre in Ostafrika kamen die Heuschrecken. Ein beträchlicher Teil der Ernte fiel ihrem unstillbaren Hunger zum Opfer.
"Klimawandel droht Entwicklungshilfe zunichte zu machen"
tagesschau.de: Können diese riesigen Probleme eigentlich gelöst werden?
Späth: Selbst einzelne Tropfen auf den heißen Stein retten Menschenleben. Aber wenn wir immer nur Nothilfe leisten können und nie aus dem Krisenmanagement rauskommen, dann werden wir langfristig und nachhaltig natürlich nichts ändern. Was bisher an erfolgreicher Entwicklungshilfe geleistet wurde, droht durch den Klimawandel und die damit verbundenen Auswirkungen zunichte gemacht zu werden. Es ist wirklich dramatisch, weil sich viele Staaten aus ihrer globalen Verantwortung ziehen.
Das zeigt sich etwa daran, dass sich reiche Staaten nicht an verabredete Klimaziele halten. Die Rechnung dafür wird hier bezahlt. Hier sind die Negativfolgen des Klimawandels schon seit Jahren deutlich zu sehen und zu spüren. Noch vor zehn Jahren waren Wetter und auch schlimme Unwetter trotz dramatischer Zerstörungen einigermaßen berechenbar, aber die Katastrophen von heute treffen auf Gesellschaften, die immer mehr geschwächt sind. Da sterben ganze Kulturen aus.
Das Gespräch führte Reinhard Baumgarten, SWR.